Am 26. Juni dirigierte Ulf Schirmer ein letztes Mal ein "Sounds of Cinema"-Konzert als künstlerischer Leiter des Münchner Rundfunkorchesters. Mit BR-KLASSIK spricht er über die Faszination Filmmusik, seinen Abschiedsschmerz - und das Entziffern von Danny Elfmans Handschrift.
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BR-KLASSIK: Färbt etwas von der Zirkus-Atmosphäre hier im Circus Krone-Bau auf Sie und das Orchester ab? Gibt’s da ein Dompteur-Feeling?
Ulf Schirmer: Ja, ganz unbedingt. Es ist nicht nur das Dompteur-Feeling. Sie müssen sich vorstellen, in den Garderoben kann man die Elefanten von draußen riechen. Das ist schon was ganz Besonderes. Und dieses Zirkus-Flair sorgt auch dafür, dass wir uns in einer ganz anderen Stimmung befinden. Es ist aufregend: Dem Publikum zugewandt, weil das Publikum ja so im Kreis um uns herumsitzt. Wir fühlen uns wirklich wie in der Manege.
BR-KLASSIK: Und die Akustik, spielt die eine Rolle?
Bildquelle: © Mark Noormann Ulf Schirmer: Das spielt eine ganz große Rolle, denn der Zirkus ist ja kein Konzertsaal. Wir müssen Teile des Orchesters elektronisch verstärken, wir müssen mit Monitoring arbeiten, d.h. es werden im Orchester Lautsprecher aufgestellt, so dass man im Orchester andere Orchestergruppen besser hören kann. Es ist also eher ähnlich wie im Popkonzert.
BR-KLASSIK: Es heißt ja immer, die Filmmusik erreiche im Vergleich zur Ernsten Musik mehr Publikum, weil die Melodien bekannter sind. Jetzt ist aber doch der Anfang der 5. von Beethoven oder die "Ode an die Freude" viel bekannter als "Star Wars" oder "Batman"?
Ulf Schirmer: Ja und Nein. Es sind die Anfangstakte bekannt. Die sind ja wie Ikonen, die werden vielfach verwandt. Aber die Menschen kennen die Stücke nicht. Das verhält sich bei Filmmusik anders, weil die Filmmusik sowieso nur aus diesen kurzen, ikonenhaften Aufrissen besteht. Sodass das Publikum, das sich da hineinbegibt, wirklich das Gefühl haben kann: "Ach, ich bin mitten drin in unserer Kultur."
BR-KLASSIK: Wenn Sie "in unserer Kultur" sagen, bezieht sich das auf die Filmmusik und nicht auf die Kulturgeschichte?
Ulf Schirmer: Ich meine damit tatsächlich die Gesamtkultur unserer Gesellschaft oder Europas, wenn Sie so wollen. Es ist ja so, dass diese sogenannte Klassik wegbricht, es fehlt ja immer mehr das Bewusstsein dafür. Und selbst da, wo sie gespielt wird, hat das etwas Konsumtives: Das ist kein inhaltliches Sich-Auseinandersetzen mit der Komposition, so wie das mal gedacht war im Sinne eines Kunstwerks. Und die Filmmusik wiederum ersetzt da vieles: Sie versetzt die Menschen in den Stand, innerlich eine Handlung und Emotionen zu erleben - also sich wirklich zu verhalten zu dieser Musik.
BR-KLASSIK: Das funktioniert auch, wenn man jetzt z.B. die "Batman"-Filme gar nicht kennt?
Ulf Schirmer: Es funktioniert dann nicht so gut. Aber es funktioniert doch, weil diese Musik enorm griffig ist und sofort in der Lage, Freud, Leid, Bedrohung, Gefahr, Erlösung auszudrücken - und zu malen.
BR-KLASSIK: Auch Mozart oder Beethoven malen Freude und Leid nebeneinander, aber doch ist da ein kleiner Unterschied. Können Sie uns den erklären?
Bildquelle: © Mark Noormann Ulf Schirmer: Es ist ja überhaupt schon der Ansatz unseres Gespräches, der zeigt, dass es in der Filmmusik um die Emotionalität geht. Es geht aber in der hochklassischen Musik auch und vor allem um Struktur. Da geht es um Beides. Goethes Werther hat ja gesagt: Bei einem Streichquartett sei das so, als ob man dem vernünftigen Gespräch von vier Männern zuhören würde. Das heißt also, sie müssen dem strukturellen Verlauf folgen. Sie müssen in der Klassik die Emotion in Beziehung setzen zu dem, wie es gesagt wird. Bei der Filmmusik funktioniert das anders: Wir überlassen uns nur den Emotionen. Und die sind ähnlich wie in der Werbung oder wie im Film ganz kurz geschaltet: Sie reißen das in der Musik an und - das können diese Komponisten grandios - die Stimmung ist sofort da. Sie müssen keiner Struktur folgen. Die Struktur besteht in einer losen Abfolge der Melodien, das war‘s.
Dagegen ist Beethoven ein Kalligraph.
BR-KLASSIK: Eine ganz pragmatische Frage: Wenn Sie eine Filmmusik-Partitur vorliegen haben, ist das dann in der Beschaffenheit des Materials genauso, wie wenn Sie sich einen Beethoven oder Wagner aufs Pult legen?
Johnny Depp als Edward in "Edward mit den Scherenhänden" | Bildquelle: Imago/UnitedArchives Ulf Schirmer: Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Filmmusikkomponisten. Gerade am heutigen Abend ist das so. Mit John Williams haben wir einen Meister am Werk, dessen Partituren sich optisch denen von Wagner angleichen. Ohne, dass Sie die Musik hören, sehen Sie schon: spätromantisch, sich deutlich abwechselnde Instrumentengruppen und so weiter. Dann gibt es Musiken, wie z.B. "Edward mit den Scherenhänden", das ist ein ganz simpler Walzer, der extrem schwierig zu realisieren ist, weil wir ihn alle kaum lesen konnten! Das sind Handschriften, da ist Beethoven noch der reinste Kalligraph dagegen. Das Stück besteht nur aus Abkürzungen und kleinen Pünktchen und ist so dahin "geschlurt", also offenbar unter größtem Zeitdruck entstanden. Extrem schwer zu entziffern. Was eigentlich dieser Maßgabe entspricht, dass Filmmusik schnell realisierbar sein muss. Da sitzen wir dann und doktern dran rum.
BR-KLASSIK: Und wie verschaffen Sie sich dann Zugang in die authentische Interpretation eines solchen Walzers?
Ulf Schirmer: Das handhabe ich so, dass ich mir dann tatsächlich das Original aus dem Film anhöre, damit ich eine Vorstellung habe, wohin das gehen soll. Und mit dieser Vorstellung trete ich dann vor das Orchester. Wir mussten bei diesem Stück teilweise "in Zeitlupe" spielen, um die ganzen Schreibfehler, die auch noch in der Partitur drin waren, auszumärzen.
Den Herrn der Ringe können Sie ohne den Ring des Nibelungen gar nicht denken.
Elijah Wood als Frodo in "Herr der Ringe" | Bildquelle: picture-alliance/dpa BR-KLASSIK: Fantasy ist das Motto des Abends, also Fantasie. Sind sie eher so ein Fantasiewelten-Typ im Stil des "Ring des Nibelungen" oder eher im Stil von "Herr der Ringe".
Ulf Schirmer: Den "Herrn der Ringe" können Sie ja ohne den "Ring des Nibelungen" gar nicht denken. Die Parallelen sind ja verblüffend und ich glaube auch, dass der Komponist das als Quelle benutzt hat. Und das sind absolut auch meine Welten. Ich liebe es, im Kino zu flüchten in solche Bereiche. Und auch in Partituren kann ich sehr gut eintauchen und mir meine eigene Regie, meine eigenen Bildwelten machen, wenn ich sie lese.
BR-KLASSIK: Heute Filmmusik, demnächst dirigieren Sie wieder den "Ring des Nibelungen" in Leipzig. Was raubt mehr Kräfte?
Ulf Schirmer: Das lässt sich gar nicht vergleichen. So ein „Ring“ energetisiert ja auch, vor allem weil es so vertraut ist, es ist ja ein Wiederholen des Immergleichen. Das macht es erst wirklich tief und zum Erlebnis. Und da weiß ich auch, gut mit meinen Kräften umzugehen. Im Circus Krone ist das ein herrliches Sich-Verausgaben auf den Moment hin, weil dieses Programm in dieser Konstellation ja so nie wieder auftaucht. Es lässt sich kaum vergleichen, was innerlich da mit mir vorgeht.
BR-KLASSIK: Aber was musikalisch passiert, lässt sich vielleicht doch vergleichen? Es heißt ja immer, viele Filmmusikkomponisten hätten bei Wagner gelernt. Inwieweit bildet Wagner denn eine Schule für Filmmusikkomponisten?
Ulf Schirmer: Generell lässt sich sagen, dass die Harmonik, die Wagner entwickelt hat, letztlich auch heute der Maßstab für Filmmusik ist, wenn Sie denn Orchester und solche Klänge hat. Eine Weiterentwicklung ist die Psychoakustik, es gibt auch Filmmusiken, die gänzlich auf klardefinierte Töne verzichten. Diesen Bereich müssen wir ausklammern. Das Geniale an Wagner war, dass er das für seine Zeit so radikal formuliert hat.
BR-KLASSIK: An diesem Konzert ist ja auch der Chor des Bayerischen Rundfunks beteiligt. In der Oper ist der Chor ja immer verankert in der Handlung, in der Filmmusik ist das anders, da wird die Stimme wirklich zum Instrument.
Ulf Schirmer: Der Chor ist in dem Fall kein handelndes Subjekt, sondern tatsächlich Klangfarbe - wie eine Orgel im Hintergrund, ein Harmonium, ein Klavier, ein Hornsatz. Und der Chor wird von den Komponisten auch exakt so eingesetzt.
BR-KLASSIK: Für welche Stimmung eignet sich die menschliche Stimme denn besonders gut?
Ulf Schirmer: Für jede, weil es über die menschliche Stimme hinaus nichts gibt, was tieferes Menschsein ausdrücken könnte.
BR-KLASSIK: Das ist jetzt ihr letztes Filmmusikkonzert mit dem Münchner Rundfunkorchester, zumindest als künstlerischer Leiter. Schwingt auch Wehmut mit heute Abend?
Ulf Schirmer: Absolut! Das war schon in der Probenarbeit für mich spürbar. Immerhin haben wir über die Jahre ein Format richtiggehend entwickelt. Das fing im Prinzregententheater an, dann wuchs das, wurde groß und größer. Jetzt sind wir wieder auf einem Weg, es etwas kleiner zu machen, was den Umständen geschuldet ist… Das ist schon eine richtige Wanderschaft, die wir da unternommen haben. Und es ist nicht so ganz leicht, loszulassen.
Das Gespräch für BR-KLASSIK führte Sylvia Schreiber.