Sie ist eine der außergewöhnlichsten Vertonungen des katholischen Messtextes und eine der ganz großen Meisterleistungen der abendländischen Musikgeschichte: die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Es gibt wohl kaum ein Werk, das in der Aufführungsgeschichte sein Wesen derart verändert hat. BR-KLASSIK-Redakteur Laszlo Molnar nimmt einige Einspielungen der h-Moll-Messe unter die Lupe.
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Bis etwa in den 1960er Jahren klangen die meisten Aufführungen von Bachs h-Moll-Messe mit professionellen Musikern so, wie bei Karl Richter oder Otto Klemperer: Ein großer Chor singt, ein großes Orchester spielt. Der Dirigent strebt nach großem Ausdruck, nach Überwältigung. Die Zuhörer sollen ergriffen werden. Alles auf höchstem Niveau, die Soli werden mit Opernsängern besetzt, den Stars der Zeit – Agnes Giebel, Janet Baker, Nicolai Gedda, Hermann Prey. Im BBC Chorus hören wir Stimmen, die auch in einem Opernchor singen könnten. In einer Aufnahme von 1967 mit Otto Klemperer am Pult des New Philharomonia Orchestras klingt das so:
Eine unverändert vorbildliche Aufnahme ist die von Nikolaus Harnoncourt von 1968. Nur ein Jahr nach der Einspielung mit Otto Klemperer und doch eine ganz andere Klangwelt. Harnoncourt wollte ergründen, warum das Werk so ist, wie es ist, und wie es Bach sich vorgestellt haben könnte. Eher langsame Tempi, sorgfältigste Artikulation, eine bis ins Kleinste überwachte Aufnahme hat bis zum heutigen Tag alles aus der Partitur herausgeholt, was möglich ist. Die Aufnahme zu hören ist, wie mit einem Leuchtzeiger durch die Noten zu gehen. Alles, was hier zum Klingen kommt, Soli, Tutti, Sänger, Instrumente ist wundervoll und beseelt. Hier ist die Aufnahme von 1968 mit den Wiener Sängerknaben und dem Concentus Musicus Wien unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt.
Ein weiterer Protagonist der Originalklangszene macht sich in den 80er Jahren bereit: John Eliot Gardiner. Zusammen mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists hat er 1985 den Standard für die Interpretation der h-Moll-Messe als Virtuosenstück gesetzt. Wie kein anderer führt Gardiner eine Solistengruppe als Chor und lässt den Chor singen, als sei er ein Solist. Mit solch einer Besetzung unerreicht ist die emotionale Kraft, die Gardiner aus dieser Messvertonung entfesselt. Bei Gardiner hört man als Chor eine Versammlung geradezu verzückter einzelner Stimmen – hier in einer undatierten Aufführung mitzuerleben:
Die Messe in h-Moll ist Bachs letzte Komposition. Ihr gab der Komponist alles mit, was er an Kunst im Laufe seines Lebens als Organist, Komponist und Kapellmeister entwickelt hatte – vom strengen polyphonen Satz bis zu einer ins feinste verästelten Konzertfaktur und dem Modernsten an Arien, das es zur damaligen Zeit gab. Welche Arbeit tatsächlich darin steckt, hört man am besten in einer der radikalsten Aufführungen, die es auf Tonträger gibt: mit dem Dunedin Consort aus Edinburgh unter der Leitung von John Butt und nur zwei Sängern pro Stimme. Das hat mit einem Chor, wie er bei Klemperer zu hören war, nichts mehr zu tun. Das ist die Musik in ihrer athletischsten Gestalt. Hierhin führt der Weg, den das Verständnis von Bachs h-Moll-Messe genommen hat. Von der groß und breit daherkommenden oratorischen Chorkomposition zum durchtrainierten Stimm-Kunstwerk für eine Gruppe hochvirtuoser Solisten. Hier ist das "Sanctus" mit den Dunedin Consort & Players unter der Leitung von John Butt zu sehen und zu hören:
Die Aufnahme der h-Moll-Messe durch den Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Dijkstra, zusammen mit dem Concert Köln, aus dem Jahr 2016 scheint wie ein seltener Solitär. Denn man hört: diese Sängerinnen und Sänger arbeiten immer zusammen, sie proben Tag für Tag. Dijkstra konnte mit den Stimmgruppen an Nuancen arbeiten. Hören Sie, wie markant und kraftvoll, dabei auf das Feinste abgemischt, das Kyrie und alles Weitere mit dem BR-Chor und dem Concerto Köln unter Peter Dijkstras Leitung klingen:
Bildquelle: BR/Johannes Rodach
Dijkstra dirigiert Bachs "h-Moll-Messe"
Sendung: "Interpretationen im Vergleich" am 5. Februar 2019 ab 20.05 Uhr auf BR-KLASSIK - hier die ganze Sendung zum Anhören.
Münchner Bach-Chor und Orchester, Karl Richter
Deutsche Grammophon Gesellschaft Archiv (1961)
BBC-Chorus, New Philharmonia Orchestra, Otto Klemperer
EMI (1967)
Wiener Sängerknaben, Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt
Teldec (1968)
Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling
CBS (1977)
The Bach Ensemble New York, Joshua Rifkin
Nonesuch Records (1982)
The Monteverdi Choir, English Baroque Soloists, John Eliot Gardiner
Deutsche Grammophon Gesellschaft Archiv (1985)
Collegium Vocale Ghent, Philippe Herreweghe
Virgin Classics (1989)
Bach-Chor der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache
EMI (1990)
Bach Collegium of Japan, Masaaki Suzuki
BIS-Records (2007)
Dunedin Consort, Dunedin Players, John Butt
Linn-Records (2009)
Thomanerchor Leipzig, Freiburger Barockorchester, Georg Christoph Biller
DVD Accentus Music (2013)
Chor des Bayerischen Rundfunks, Concerto Köln, Peter Dijkstra
BR-Klassik (2016)
Collegium Vocale Leipzig, Merseburger Hofmusik, Michael Schönheit
Querstand (2018)
Kommentare (6)
Freitag, 15.Februar, 18:27 Uhr
BR-KLASSIK
Kommentar von Werner Georg Schubert
Sehr geehrter Herr Schubert,
vielen Dank für Ihr kritisches Feedback. Wir freuen uns über Ihr Interesse an unserer Sendung. Sie stand eine Woche zum Anhören online. Gerne würden wir sie länger anbieten, leider dürfen wir das aus rechtlichen Gründen nicht.
Freundliche Grüße,
das BR-KLASSIK-Team
Mittwoch, 13.Februar, 19:18 Uhr
Werner Georg Schubert
Molnars Interpretationsvergleich Messe in h-Moll
Von o.g. Sendung wurde mir enthusiastisch berichtet, gerne hätte ich auch in den Chor der begeisterten Hörer auf Ihrer Seite eingestimmt, jedoch...: Das „Angebot“, hier „die ganze Sendung“ zu hören, bzw. nachzuhören, erweist sich als eine Art Mogelpackung, das Audio mit ein paar wenigen Sätzen von Herrn Molnar und Ultrakurzausschnitten des Werks dauert noch nicht einmal vier Minuten. Wenn der Beitrag wirklich so herausragend war, warum sendet ihn der BR nur ein einziges Mal bzw. bietet ihn wenigstens 14 Tage in seiner Mediathek an. Welch eine Verschwendung!
Samstag, 09.Februar, 20:56 Uhr
Erdmute Knauß v. Kalchreut
h-moll Messe
Herzlichen Dank für diese beeindruckenden Interpretationen von Lazlo Molnar. Danke auch dem BR, dass er immer wieder solche interessante Sendungen veröffentlicht. Da wird nicht nur Musikwissenschaftliches, sondern auch Geistliches vermittelt. Ich habe die Sendung mehrfach nachgehört und fühle mich geradezu beschenkt.
Dienstag, 05.Februar, 22:18 Uhr
Marieluise Hatzelmann
L.Molnar vergleicht Interpretationen der h-moll M
Eine wunderbare, lehrreiche Sendung.
Dienstag, 05.Februar, 21:50 Uhr
Dr. Klaus Winkler
Interpretationen im Vergleich: Bachs h-moll Messe,
Eine großartige Sendung von Laszlo Molnar. Bin begeistert, obwohl ich ejgentlich kein großer Freund der Barockmusik bin. Habe mich ja in den letzten Jahren mehrfach über die "Barocklastigkeit" in BR-Klassik beschwert. Aber dies war - entschuldigen Sie meine Überschwänglichkeit - eine Sternstunde
Dienstag, 05.Februar, 21:39 Uhr
Michael Janisch
H-Moll Messe
Was für eine eindrucksvolle Reise durch die Geschichte der Aufführungspraxis und Interpretationskuns der großen Komposition Bachs ja und der gesamten alten Musik! Chapeau Lazlo Molnar