Mahler schrieb verschiedene Programme zur inhaltlichen Erläuterung seiner Zweiten Symphonie. Später distanzierte er sich von ihnen mit der Begründung, die Musik müsse für sich selbst sprechen. Folgendes stammt aus Mahlers letztem Entwurf vom Dezember 1901.
Bildquelle: IMAGNO/Österr. Theatermuseum/Süddeutsche Zeitung Photo
Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Male an unserem geistigen Auge vorüber. – Und nun in diesem ernsten und im Tiefsten erschütternden Augenblicke, wo wir alles Verwirrende und Herabziehende des Alltags wie eine Decke abstreifen, greift eine furchtbar ernste Stimme an unser Herz, die wir im betäubenden Treiben des Tages stets überhören: Was nun? Was ist dieses Leben – und dieser Tod? Giebt es für uns eine Fortdauer? Ist dieß Alles nur ein wüster Traum, oder hat dieses Leben und dieser Tod einen Sinn? – Und diese Frage müssen wir beantworten, wenn wir weiter leben sollen. –
[Fünfminütige Pause]
Ein seliger Augenblick aus dem Leben dieses theuren Todten, und eine wehmütige Erinnerung an seine Jugend und verlorene Unschuld.
Der Geist des Unglaubens, der Verneinung hat sich seiner bemächtigt, er blickt in das Gewühl der Erscheinungen und verliert mit dem reinen Kindersinn den festen Halt, den allein die Liebe giebt, er zweifelt an sich und Gott. Die Welt und das Leben wird ihm zum wirren Spuk; der Ekel vor allem Sein und Werden packt ihn mit eiserner Faust und jagt ihn bis zum Aufschrei der Verzweiflung.
Die rührende Stimme des naiven Glaubens tönt an unser Ohr: "Ich bin von Gott und will wieder zu Gott! Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben, wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!"
Wir stehen wieder vor allen furchtbaren Fragen, – und der Stimmung am Ende des 1. Satzes. – Es ertönt die Stimme des Rufers: Das Ende alles Lebendigen ist gekommen, das jüngste Gericht kündigt sich an, und der ganze Schrecken des Tages aller Tage ist hereingebrochen. – Die Erde bebt, die Gräber springen auf, die Toten erheben sich und schreiten in endlosem Zug daher. Die Großen und die Kleinen dieser Erde, die Könige und die Bettler, die Gerechten und die Gottlosen – Alle wollen dahin; der Ruf nach Erbarmen und Gnade tönt schrecklich an unser Ohr. – Immer furchtbarer schreit es daher – alle Sinne vergehen uns, alles Bewußtsein schwindet uns beim Herannahen des ewigen Gerichtes. Der "Große Appell" ertönt, die Trompeten der Apokalypse rufen: – mitten in der grauenvollen Stille glauben wir eine ferne, ferne Nachtigall zu vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erdenlebens! Leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: "Auferstehn, ja auferstehn wirst du!" Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz – alles ist stille und selig! – Und siehe da: Es ist kein Gericht – Es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer und kein Kleiner – Es ist nicht Strafe und nicht Lohn! Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein!