Neue Musik als "Studie über die Möglichkeiten, Glück in Musik auszudrücken" – und das bei den Donaueschinger Musiktagen, beim ältesten Festival für Neue Musik, wo jede Reaktion des für seine kritische Haltung berüchtigten Publikums die Komponierenden ganz unmittelbar trifft, wenn diese nach der Uraufführung ihrer Werke auf die Bühne treten? Ja, geht denn das?
Bildquelle: SWR/Ralf Brunner
Zum Anhören: Bilanz zu Donaueschingen 2019
Im Jahr 2019 geht das – Neue Musik und gute Laune – in der Tat, wie der in London lebende Australier Matthew Shlomowitz mit seiner Komposition "Glücklich, glücklich, Freude, Freude" im Eröffnungskonzert gezeigt hat. Mit dem erklärten Ziel, beim Publikum Glücksgefühle auszulösen, bietet das Stück alles auf, was ins Gute-Laune-Idiom passt: von Jahrmarkt-konnotierten Klängen über Meeresrauschen und Klavierkaskaden bis hin zu tetrishaftem Computerspiel-Dingeling. Und das Publikum lacht.
Die mit Abstand meisten Lacher gab es jedoch bei Simon Steen-Andersens "Trio", wofür zum ersten Mal in der fast 100-jährigen Geschichte des Festivals Big Band, Symphonieorchester und Vokalensemble des SWR gemeinsam auf der Bühne standen, was für sich schon eine phänomenale Klangwucht hatte. Dazu auf großer Leinwand eine auch singulär betrachtet fantastische Videoarbeit. Durch 400 Stunden SWR-Archivmaterial hat sich der Däne dafür geskipt. Duke Ellington, ein Schwarz-Weiß-Orchester ganz ohne Frauen, Sergiu Celibidache, der den Musikern sein heiseres "Pianissimo" zuzischt. Diese und andere Schnipsel verwebt Steen-Andersen in "Trio" so kunst- und humorvoll, dass er auch den Orchesterpreis mit nach Hause nahm, den das SWR Symphonieorchester jedes Jahr ganz am Ende der Donaueschinger Musiktage vergibt.
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Eröffnungskonzert SWR Donaueschinger Musiktage 2019 | SWR Classic
(Das Eröffnungskonzert als Video – inklusive "Glücklich, glücklich, Freude, Freude" und "Trio")
Ein weiteres Highlight: Christian Lillinger. Der Schlagzeuger, der gefühlt hundert Rhythmen gleichzeitig spielen kann, präsentierte sein aktuelles und bereits auf CD erschienenes Ensemble-Projekt "Open Form For Society" erstmals live vor Publikum. Genregrenzen zwischen Neuer Musik und Jazz verwischen – was ist das?
Neben vielen klangfokussierten Stücken gab es unter den 20 Uraufführungen und sechs Klanginstallationen (u.a.: Schwimmbad, Hotelbar, Wellblechhütte) auch Konzeptorientiertes. Wie den curAltor: eine Maschine als Kurator. Dafür wurde der curAltor im Vorfeld mit Klavierstücken gefüttert – manche als "gut", andere als "schlecht" gelabelt. Auf Grundlage seiner so entwickelten Vorlieben wählte der curAltor später aus fast 100 eingesendeten Neukompositionen seine Top Three aus, die schließlich in Donaueschingen erklangen, performt von Joseph Houston. Auch wem das künstlich intelligent kuratierte Programm nicht gefiel: Gut gespielt war es allemal.
Die Komponistin Eva Reiter | Bildquelle: SWR/Kurt Hörbst Jahr für Jahr sind in Donaueschingen nicht nur die weltweit besten Ensembles zeitgenössischer Musik zu Gast (in diesem Jahr u.a.: Ensemble Resonanz, Klangforum Wien, Ensemble Intercontemporain), sondern auch die Klangkörper des SWR, die natürlich viel Erfahrung haben mit Neuer Musik, deren Offenheit dennoch gar nicht genug betont werden kann. Beispielhaft dafür: Eva Reiters Stück "Wächter". Die österreichische Komponistin nahm dem SWR Symphonieorchester sämtliche Instrumente ab und ersetzte sie stattdessen durch kleine Plastikröhrchen aus dem Baumarkt, unterschiedlich lang, chromatisch gestimmt und selbst gebaut. Nicht jedes Symphonieorchester lässt sich zum Rohr-Orchester degradieren und sagt hinterher, die Musik klänge "wie vom Himmel" – ein Musiker aus der SWR-Orchester sagte aber genau das.
Die Donaueschinger Musiktage sind eine Institution. Fürs Ausprobieren, Scheitern und Gelingen neuer Klänge, neuer Konzepte, neuer Aufführungspraxis. Früher auch mal: fürs Buhen, für Tumult und Tabubruch. Diese Zeiten sind vorbei. Zum Glück!
Sendung: "Leporello" am 21. Oktober 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK