Die "Krupps der Habsburger Monarchie" – so wurde der Clan des österreichischen Industriellen Karl Wittgenstein genannt. Er schuf sich ein Imperium im Wien vor dem Ersten Weltkrieg. Zwei seiner Kinder erlangten weltweites Ansehen, das nicht auf Macht und Geld basierte: Ludwig wurde Philosoph und Paul Pianist. Paul Wittgenstein war aber kein Klaviervirtuose wie jeder andere: Er hatte nämlich nur einen Arm! Doch trotz dieses Handicaps konnte er spielen, und trotz seiner jüdischen Abstammung gelangte er später während des Dritten Reichs zu Ruhm.
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Paris, 1931: Sergej Prokofjew wurde Zeuge eines wütenden Streits zwischen einem äußerst eigensinnigen Komponisten und einem nicht minder eigensinigen Pianisten: "Wenn ich ohne Orchester spielen wollte, hätte ich kein Konzert mit Orchester bestellt. Ich bin ein alter Pianist, und das klingt nicht." – "Ich bin ein alter Instrumentator. Und es klingt doch!" – "Interpreten sind keine Sklaven!" – "Interpreten sind Sklaven!"
Paul Wittgenstein stritt mit Maurice Ravel erbittert über den Solopart eines Klavierkonzerts. Die Kadenz – mit ausreichender Gelegenheit zu virtuoser Selbstdarstellung des Solisten – steht am Anfang: Akkorde, übereinander getürmt, jazzige Klänge. Dunkel Brodelndes, Gesangliches, Vollgriffiges. Aber trotzdem nicht nach dem Geschmack des Auftraggebers, und der war außerdem per Vertrag Inhaber der Exklusivrechte an dem Werk bis 1936. Wittgenstein feilschte um jede Note. 1932 wurde Ravels Konzert für die linke Hand, komponiert für einen Überlebenden des Ersten Weltkriegs, uraufgeführt.
"Immer wieder muss ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist. Wie furchtbar. Welcher Philosophie würde es bedürfen, um darüber hinwegzukommen! Wenn dies überhaupt anders als durch Selbstmord geschehen kann." Da hatte sich der berühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein getäuscht mit seinem Tagebuch-Eintrag im Oktober 1914. Sein Bruder Paul grübelte nicht. Dem Siebenundzwanzigjährigen war irgendwo an der Front in Polen der rechte Arm zerschossen worden. Amputation, Kriegsgefangenenlager im bitterkalten Sibirien. Und dort geschah Unglaubliches. Paul Wittgenstein überlebte dank eines Pappkartons. Eine Klaviatur bastelte er sich daraus, auf der er unermüdlich seine linke Hand trainierte – bis zu sieben Stunden täglich. Bis auf den Verlust des rechten Arms kaum verändert, wie die Familie bemerkte, kehrte Paul Wittgenstein 1915 nach Wien zurück. Und als Freiwilliger meldete er sich sogar im Sommer 1917 noch einmal an die Front nach Italien.
Der junge Paul Hindemith | Bildquelle: picture alliance/akg-images Über einen dänischen Diplomaten erteilte Paul Wittgenstein noch während des Kriegs seinem Theorielehrer Joseph Labor, einem blinden Komponisten, einen Auftrag zu einem Klavierwerk für die linke Hand. Von da an war Wittgenstein nicht nur ein einarmiger Pianist, sondern auch Mäzen. Denn er hatte neben einem beträchtlichen Vermögen den eigenwilligen Dickkopf seines Vaters geerbt, eines kunstsinnigen Industriellen, den man auch als "Eisenkarl" kannte, nachdem er Reichtum erworben hatte – neben viel Geld ein Palais, Gemälde von Gustav Klimt und sieben Konzertflügel. Paul Wittgenstein ließ sich ein Repertoire für seine Linke schreiben – von Leopold Godowsky, Richard Strauss, Erich Wolfgang Korngold, Maurice Ravel, Sergej Prokofjew und Paul Hindemith. Für Letzteren war das ein willkommener Kompositionsauftrag in den Krisenjahren der Republik von Weimar. Im Inflationsjahr 1923 bat Hindemith um die Anweisung des Honorars in harter Währung: "Ich lasse mir für die ganze Summe einen alten Wartturm als Wohnung einrichten. Die Bauarbeiten an dem Gebäude können jederzeit angefangen werden, wenn ich einen genügenden Vorschuss leiste. Jetzt ist die Zeit für den Bauanfang sehr günstig, weil die Dollars sehr hoch sind, da Material und die Löhne aber noch nicht so rapide nachlangen. Wenn Sie mir bald einen Teil des Geldes schickten (nicht in Mark oder Kronen umgewechselt, wenn irgend möglich), hätte ich Gelegenheit ziemlich wohlfeil zu bauen."
Wittgenstein schickte unverzüglich ein kleines Vermögen, 3.000 US Dollar, und dankte dem Komponisten. Das Stück selbst verschwand in der Schublade und wurde erst 2004 uraufgeführt: zu modern, zu verzwickt für Wittgenstein. So erwies sich der einarmige Pianist auch musikalisch als Erbe seines konservativen Elternhauses. In dem war einst Johannes Brahms häufiger Gast, lange bevor die Welt von gestern im Ersten Weltkrieg untergegangen war.
1938 marschierte Hitler dann in Österreich ein. Die fanatisierte Masse tobte auf dem Heldenplatz. Juden wurden zum Putzen der Straßen mit Zahnbürsten erniedrigt. Es folgten Demütigungen, Verfolgungen, Rassegesetze. Paul Wittgenstein wurde nun als Dreivierteljude abgestempelt, obwohl er katholisch getauft war wie seine Geschwister. Das war das Ende seiner Konzerttätigkeit in Österreich.
Er ging herum wie einer, dem man die Grundlagen seines Lebens zerstört hat.
"Niemand kann sich vorstellen, was das für ihn bedeutete", erinnerte sich Wittgensteins Schwester Hermine. "Auch litt er auf seinen täglichen ausgedehnten Spaziergängen und Wanderungen unsäglich unter den abscheulichen Judenverboten, die auf Schritt und Tritt in krassester Weise drohten und seine Selbstachtung verwundeten. Er ging herum wie einer, dem man die Grundlagen seines Lebens zerstört hat, und sprach nur immer davon, dass er nicht in Österreich bleiben könne." Über 50 Jahre alt, verließ Paul Wittgenstein 1938 seine Geschwister und Österreich, um mit seiner Familie in New York neu anzufangen. Er unterrichtete, verfasste eine Schule des linkshändigen Klavierspiels, absolvierte Auftritte. Das Konzert für die linke Hand von Maurice Ravel hatte ihn auch in den USA berühmt gemacht. Lange vergessen war da der Krach mit dem französischen Komponisten, auch wenn Wittgenstein die Werke von Schmidt, Korngold und Strauss viel mehr schätzte – bis zu seinem Tod im Jahr 1961 im Alter von 73 Jahren.
Sendung: "Piazza" am 15. Dezember 2018 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK