Fast zwei Jahre lang schrieb Béla Bartók an seinem zweiten Violinkonzert, ungewöhnlich für ihn, der das "Divertimento" in 16 Tagen oder das fünfte Quartett in einem Monat zu Papier brachte. Der Geiger Zoltán Székely hatte es bei Bartók in Auftrag gegeben und ihm auch gleich gesagt, wie er es denn haben wolle, nämlich als ein ganz klassisches Konzert. Bartók aber hatte etwas Anderes im Sinn, er wollte ein größeres Variationswerk. Letztendlich fand er einen Kompromiss, mit dem sowohl Auftraggeber als auch Komponist leben konnten.
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Das starke Stück zum Anhören
Bartóks Violinkonzert Nr. 2 zeigt, dass die Suche nach einem solchen Kompromiss durchaus befruchten und zu einem ganz neuem Konzept führen kann. "Bartók hat eine sehr elegante Lösung gefunden," erklärt der Geiger Christian Tetzlaff. "Der langsame Satz ist ein Variationssatz und der dritte Satz ist eine genaue Kopie des ersten Satzes."
Gegensätze kennzeichnen den Kopfsatz des Konzerts. Momente des Auskostens wechseln sich mit vehement ausbrechenden, aufrüttelnden Passagen ab. Diese harten und schroffen Stimmungsumschwünge tauchen immer wieder auf und werden von der Sologeige eingeleitet. "Ich bin insgesamt in dem ersten Satz der Führende, der die Charaktere vorstellt; darum ist natürlich die Verantwortung sehr groß", erklärt Christian Tetzlaff. Dem robusten Anfangsthema stellt Bartók eine Zwölftonmelodie zur Seite. Mit zunehmender Länge des zerklüfteten Satzes scheint allmählich der Fortgang der musikalische Entwicklung verloren gegangen zu sein – eine Orientierungslosigkeit, die in eine Vierteltonpassage der Sologeige mündet. Aber die sich anschließende Solokadenz beendet diese Unsicherheit, bringt den Geiger wieder auf den richtigen Weg und führt ihn sicher zum Schluss.
"Das starke Stück - Musiker erklären Meisterwerke" gibt es auch als Podcast: Jetzt abonnieren!
Christian Tetzlaff | Bildquelle: © Giorgia Bertazzi Damit die Gegensätze und Stimmungsumschwünge in diesem "Allegro non troppo" auch voll zur Geltung kommen, hat Bartók ganz genaue Anweisungen in die Partitur geschrieben. Er legte viel Wert auf Genauigkeit und trug immer ein Metronom bei sich, um damit die Tempi zu kontrollieren, auch wenn er selbst spielte. In den Noten des Zweiten Violinkonzerts stehen nicht nur viele, sondern auch sehr genaue Anweisungen bezüglich Tempi, Dynamik und Ausdruck. Christian Tetzlaff empfindet diese genauen Anweisungen weder als Fesseln noch als Einengung des eigenen musikalischen Temperaments, im Gegenteil: "Das ist für mich das Phantastische bei Bartók, weil alles, was er schreibt, hundertprozentig mit der Stimmung der Musik einhergeht. Metronomisierung, Dynamik und überhaupt alle Bezeichnungen sind so, dass man denkt: Das meiste hätte er gar nicht schreiben müssen, so soll es sowieso sein. Aber es ist eine schöne Bestätigung."
Nach dem durch schroffe Gegensätze geprägten Kopfsatz folgt das "Andante tranquillo", ein Variationssatz. Die Sologeige stellt das achttaktige Thema vor, deren Grundlage eine Quarte ist. Eine wunderschöne Kantilene, ruhig und abgeklärt, erhebt sich über dem Orchester. Im Verlauf des Satzes variiert Bartók dieses Thema und führt den Hörer in verschiedenste Klangwelten. Wie der Held im Märchen erlebt der Geiger die verschiedensten Abenteuer, durchschreitet dunkle, unheimliche Passagen, marschiert trotzig weiter, ist erleichtert und froh, ehe er ins nächste Abenteuer schlittert. Am Ende spielt die Sologeige wieder das Thema, diesmal eine Oktave höher. Ins Nichts schwebend endet dieser Satz.
Auch im Finale verwendet Bartók das Variationsprinzip. "Der dritte Satz ist eine genaue Kopie des Kopfsatzes", erläutert Christian Tetzlaff. "Aber alles, was im ersten Satz einen Hang ins Großartige und Stolze und Schöne hat, bekommt hier eher fratzenhafte Züge. Manchmal klingt dieses Finale auch wild, tänzerisch und bukolisch: Dadurch, dass man den letzten Satz vom Ablauf her eigentlich schon kennt und trotzdem alles vollkommen anders ist, entsteht ein großer Zusammenhang in dem Stück."
Das ist ein großartiger Schluss und setzt dem Ganzen noch die Sahnehaube auf.
Christian Tetzlaff | Bildquelle: © Giorgia Bertazzi Über das Ende von Bartóks Zweitem Violinkonzert war der Auftraggeber, der Geiger Zoltán Székely, nicht sehr erfreut, denn der Solist kam gar nicht mehr zum Zuge. Deshalb bat er den Komponisten, einen anderen Schluss zu komponieren und Bartók schrieb eine zweite Version des Schlusses, in dem die Solovioline bis zum letzten Ton im Mittelpunkt steht. Christian Tetzlaff hat sich für die erste Version des Schlusses entschieden: "Ich spiele jetzt die Orchesterversion, in der er einen rauschenden, wirklich orgiastischen Schluss komponiert hat, mit absurden Posaunen- und Trompetenglissandi und vollem Orchester. Das ist ein großartiger Schluss und setzt dem Ganzen noch die Sahnehaube auf. Der Wermutstropfen dabei ist, dass ich nicht mehr dabei bin, denn es hat keinen Sinn, die Sologeige mitspielen zu lassen, wenn sowieso Tohuwabuho herrscht und der Solist nur als Pantomime fungiert."
Aber egal, für welche Schlussvariante sich der Sologeiger heute entscheidet: Bartóks Zweites Violinkonzert bleibt eines der bedeutendsten und meistgespieltesten Werke des 20. Jahrhunderts. "Der Geigenpart ist sensationell geschrieben, als ob Bartók von Kindesbeinen auf an mit der Geige groß geworden wäre, obwohl er eigentlich Pianist war", begeistert sich Christian Tetzlaff. "Der sinnliche Aspekt bei diesem Stück ist phantastisch. Es ist ein Werk, bei dem ich mir sicher bin, dass es da sehr viele Momente gibt, in denen das Publikum vollständig mitgenommen wird."
Béla Bartók - Konzert für Violine und Orchester Nr. 2, Sz 112
Christian Tetzlaff (Violine)
The London Philharmonic
Leitung: Michael Gielen
Label: Virgin Classics