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Jean Sibelius Symphonie Nr. 4 a-Moll

Die Musik von Jean Sibelius ist für deutsche Zuhörer manchmal nicht ganz leicht zugänglich. Denn Sibelius komponierte nicht nach dem Satzaufbau, wie er von Beethoven und Brahms tradiert wurde, sondern nach eher naturhaften, kreisenden Prinzipien. Dennoch sind seine Werke nicht weniger bedeutungsvoll. Sir Colin Davis, langjähriger Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und ein Kenner der Musik von Jean Sibelius, hat in dessen 4. Symphonie die Reise in den Tod gesehen. Dies erzählte er Elgin Heuerding.

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Das starke Stück

Sibelius – Symphonie Nr. 4 op. 63

Sibelius' Symphonien Nr. 1 und 2 sind romantische Werke. Mit der Dritten hat sich der Komponist rückwärts orientiert: Sie ist geradezu klassisch geworden. Bei der Vierten ist Sibelius dann wieder komplett neue Wege gegangen. Diese Symphonie wird gerne avantgardistisch genannt. Unter anderem weil Sibelius die Symphonie aus einem Kern entwickelt, aus dem Tritonus. Und der steigt gleich zu Beginn aus den Fagotten, Kontrabässen und Violoncelli auf.

Es ist ein einmaliges Stück, das niemand liebt.
Colin Davis über die Vierte Symphonie von Jean Sibelius

Eine Zeit ohne Zuversicht

Grausam, einsam, deprimierend: So sieht Sir Colin Davis diese Vierte Symphonie von Jean Sibelius. Für den Dirigenten dennoch ein großartiges Werk: "Es ist ein einmaliges Stück, das niemand liebt. Man muss eben zuhören: Was will er denn damit sagen?" Jean Sibelius schlägt in seiner 4. Symphonie einen tragischen, düsteren, manchmal schwer auf der Seele lastenden Ton an. Entstanden ist die Symphonie in den Jahren 1909 bis 1911. Zuvor, im Jahr 1908, wurde Sibelius wegen eines Tumors am Hals operiert. Hinterher war lange Zeit unklar, ob er wirklich genesen würde. Spielt diese biografische Situation für die 4. Symphonie eine Rolle? Colin Davis meint dazu: "Es war eine harte Zeit für Sibelius, er durfte nicht trinken und nicht rauchen. Er hatte keine Zuversicht, war selbstkritisch. Hat sich aufgeblasen und ist dann zurückgesunken. Aber er hatte einen Kopf, der alles organisiert. Auch wenn man das nicht denken sollte, komponierte er doch."

Abbild des seelischen Zustandes

Die Symphonie ist natürlich nicht bloß eine Spiegelung der Krankheit von Jean Sibelius. Der Komponist selbst hat oft betont, seinen Symphonien lägen keine "Programme" zugrunde. Dennoch hat auch Sibelius bemerkt, dass immer mal wieder ein Abbild seines seelischen Zustandes in der Musik haften geblieben ist.

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Ungeheuer kommen auf die Straße

Sir Colin Davis | Bildquelle: BR Der Dirigent Sir Colin Davis (gestorben 2013) | Bildquelle: BR Zum ambivalenten zweiten Satz sagt Colin Davis: "Er beginnt wie ein schöner Tag, aber am Nachmittag ist alles weg und die Ungeheuer kommen auf die Straße – aggressiv und unbequem." Abrupt hört der zweite Satz auf. Der dritte dann scheint in die weiten Landschaften Finnlands zu führen. Liegende Klänge, von der Flöte angeführt und später von den Hörnern kontrastiert, stecken einen weiten und manchmal leeren Raum ab. Dieser dritte Satz, "Il tempo largo" hat meditativen Charakter. Wirkt aber ebenso wie der zweite Satz abgebrochen, unvollständig. "Der dritte Satz ist wunderbar, wie eine Florestan-Stimme aus der Tiefe des Herzens", sagt Colin Davis. "So gibt es eine große Melodie, aber endet in Pessimismus oder stirbt. Man ist allein im Leben, beim Sterben auch. Es ist unmöglich, vor sich zu fliehen."

Der Hahn kräht dreimal

Und auch im Finale gibt es keine Lösung – so sieht Colin Davis diesen Satz: "Was ist das? Es beginnt mit Pferden, die Musik geht auf Reisen, es gibt Schnee, aber es kommt zur Katastrophe: Hunde fallen übereinander her, Leute werden in Schnee geworfen. Am Ende sind alle tot. Warum kurz vor Schluss in der Oboe der Hahn dreimal kräht, weiß ich nicht. Vielleicht fühlen sich die Menschen vom Leben verraten."

Konflikt und Chaos

Die Reise, die jeder Zuhörende hier mit Sibelius angetreten hat, führt für Colin Davis ganz klar zu einem Ziel: "In den Tod. Mit den Händen wird die Erde glattgemacht. Alles ist vorbei. Auf den letzten Seiten der Partitur gibt es nur noch Konflikt und Chaos."

Musik-Info

Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 4 a-Moll, op. 63

London Symphony Orchestra
Leitung: Sir Colin Davis

Label: LSO Live (2009)

Sendung: "Das starke Stück" am 29. November 2022, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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