Er provozierte die herrschende Klasse mit seinen satirischen Nadelstichen und unterhielt "tout le monde" mit eingängigen Melodien. Jacques Offenbach gelang das Kunststück, das kaum einem deutschen Komponisten jemals gelang: Er eroberte Paris im Sturm und stieg auf zum musikalischen König der "Belle Époque". Einige seiner Kompositionen sind immer noch populär. Zum Beispiel die "Barcarole" aus "Hoffmanns Erzählungen". Markus Vanhoefer stellt sie gemeinsam mit der Sopranistin Simone Kermes vor.
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Was für ein starkes Stück! Ein suggestiv schaukelnder Sechsachtel-Rhythmus, ein sanftes Thema, das so schlicht wie bezaubernd ist. Es ist eine liebliche Musik, die uns zum Träumen verführt, der Soundtrack für Sehnsucht und Melancholie. Jacques Offenbachs "Barcarole", sein Mega-Hit. Gäbe es ein Ranking der Klassik-Kompositionen, die man auch jenseits der Ernsten Musik mit den angestaubten Begriffen "Schlager" und "Evergreen" bezeichnen könnte, dieses Stück befände sich auf einem der vordersten Plätze. Die "Barcarole" kennt einfach jeder.
Es klingt leicht, ist es aber nicht.
"Was manche Komponisten für Melodien schreiben, die regelrechte Ohrwürmer sind! Wenn man die einmal hört, dann hört man sie den ganzen Tag. Wenn man das gut singt, dann hat das Erfolg. Es klingt leicht, ist es aber nicht." Die Sopranistin Simone Kermes hat es treffend formuliert. Jacques Offenbachs "Barcarole" ist der Ohrwurm eines ausgewiesenen Ohrwurm-Spezialisten. Und das ist eine Begabung, die der Liebe Gott nur den wenigsten Musikern in die Wiege gelegt hat.
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Schätzte Offenbach: der Philosoph Friedrich Nietzsche | Bildquelle: picture alliance / ZUMAPRESS "So hat Offenbach noch mehr das Anrecht auf den Namen 'Genie' als Wagner. Wagner ist schwer, schwerfällig. Nichts ist ihm fremder als Augenblicke übermütiger Vollkommenheit, wie sie dieser Hanswurst Offenbach erreicht", sinniert beispielsweise Friedrich Nietzsche. Und Eduard Hanslick, einer der mächtigsten Kritiker des 19. Jahrhunderts, ergänzt: "Der Strom seiner Melodien floss unversieglich. Melodien, wie sie heute zu den größten Seltenheiten gehören; einfach, sangbar, ursprünglich, reizend durch ihre Linien, nicht erst durch das Kolorit einer kunstvollen Begleitung. Man könnte zwanzig Melodien Offenbachs nebeneinander stellen und jede wäre neu und verschieden von den anderen."
Jacques Offenbach, der "Mozart der Champs-Élysées", das ist die Geschichte vom Kölner Jungen, der mit seinen, mal übermütig leichten, mal sentimental eingängigen Themen Paris im Operetten-Sturm erobert hat. Offenbachs "Barcarole" ist unverwüstlich, und auch das ist eine Qualität. Es gibt sie in unzähligen Bearbeitungen, gesungen und instrumental, für Harmonium, Klaviertrio, Mandolinen-Ensemble und natürlich für Salonorchester. Dabei ist die "Barcarole" keine Komposition nur für sich alleine. Sie stammt aus Offenbachs "Schwanengesang", der 1881 und damit erst nach seinem Tod uraufgeführten Oper "Hoffmanns Erzählungen".
Es ist das Natürliche, das wir als Menschen schön finden.
Zu Klängen der "Barcarole" hebt sich der Vorhang zum vierten Akt. "Im Palast Giuliettas in Venedig; von der Terrasse herab fällt der Blick auf die Lagunen, die im Mondlicht silbern schillern." So lautet die Regieanweisung. Die Mätresse Giulietta und die rätselhafte Figur Niklaus nähern sich in einer Gondel. "Schöne Nacht, du Liebesnacht, stille mein Verlangen", singen sie. Worin liegt die hypnotische Wirkung dieser Musik? Simone Kermes bringt es auf den Punkt: "Es ist das Natürliche, das wir als Menschen schön finden, wo wir uns wohlfühlen. Das Schwierigste, was man überhaupt als Künstler machen kann, ist das Schlichteste."
Simone Kermes | Bildquelle: picture alliance/rtn - radio tele nord Das aus dem Italienischen stammende Wort "Barcarole" hat zwei Bedeutungen. Laut Brockhaus (Ausgabe 1897) bezeichnet es sowohl "ein kleines Boot ohne Mast" als auch "ein gondelierartiges Instrumentalstück – Lied der venezianischen Gondolieri, meist im 6/8 Takt". Offenbachs "Barcarole" erfüllt diese Vorgabe. Auch deshalb ist sie eine Komposition, die unweigerlich Assoziationen weckt. Für viele von uns ist sie das Venedig-Stück per se, mehr Venedig geht fast nicht. Wenn wir uns jedoch mit ihrer Entstehungsgeschichte beschäftigen, stoßen wir auf einen verblüffenden Fakt. Beim Schreiben seiner "Barcarolen-Melodie" hatte der deutsch-französische Meister weder die Lagunenstadt noch "Hoffmanns Erzählungen" im Sinn. Offenbachs musikalische Gondel schaukelte ursprünglich auf den bewegten Wogen des Rheins – und zwar in Offenbachs Oper "Die Rheinnixen", uraufgeführt im Februar 1864 in Wien. Das Werk ist eine Ritter-Oper, mittelalterlich dräuend und ernst: Vom parodierenden Witz und der frivolen Fröhlichkeit, also von all dem, wofür der Wahlpariser so berühmt ist, hat sie nichts. Die "Rheinnixen" werden ein Misserfolg. Jahre später, nach 1870, wird sich der sonstige Schnell- und Vielschreiber Offenbach mit einem Langzeitprojekt beschäftigen: der Vertonung eines Theaterstücks nach Erzählungen des romantischen Dichters E.T.A. Hoffmann. Dabei greift er auf einen Abschnitt der "Rheinnixen" zurück. Und so wird aus der niederrheinischen "Feenmusik" ein venezianisches Gondellied.
Jacques Offenbach stirbt am 5. Oktober 1880, den weltweiten Siegeszug seiner "Barcarole" wird er nicht mehr erleben. Offenbach, das "naive Wesen", der "Operetten-Harlekin", das "originelle Talent". Aus überheblicher Sicht der Hochkultur ist Offenbachs "Barcarole" "leichte Musik". Interpreten, selbst solche, die mit allen technischen Wassern gewaschen sind, sehen das jedoch anderes. Nichts ist in der Musik so schwer, wie schwerelos zu sein.
Sendung: "Das starke Stück" am 18. Juni 2019, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK