Wien, 18. März 1902: Das Streichsextett "Verklärte Nacht" von Arnold Schönberg wird uraufgeführt. Die Vorlage: ein Gedicht von Richard Dehmel. Die Handlung des Gedichts: freie Liebe. Damals ein Skandal. Das Gedicht ist heute vergessen, das Sextett ist bis heute Schönbergs vielleicht beliebteste Komposition.
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"Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain, / Der Mond läuft mit, sie schaun hinein." Ein Gedicht von Richard Dehmel dient Schönberg als Vorlage für sein Streichsextett. "Er fasst sie um die starken Hüften / Ihr Atem küsst sich in den Lüften." Die eine oder andere Zeile klingt heute unfreiwillig komisch. Doch um 1900 ist Dehmels Lyrik hochaktuell. "Weib und Welt" heißt der erfolgreiche Gedichtband, den der junge Schönberg buchstäblich verschlang. Unerhörtes wird darin bedichtet: die freie Liebe, von Dehmel "erotische Kameradschaft" genannt. Skandalös. Das Buch landet vor Gericht, ein Text muss wegen gotteslästerlicher Unzucht geschwärzt werden.
Das Gedicht, das Schönberg in seiner "Verklärten Nacht" musikalisch nacherzählt, wird zwar vom Staatsanwalt nicht beanstandet, doch anstößig ist es allemal. Ein frischverliebtes Paar unterhält sich beim nächtlichen Spaziergang. Sie gesteht, dass sie von ihrem Ex-Freund schwanger ist. Er schaut schweigend in den Sternenhimmel und sagt dann, dass er dem Kind ein guter Stiefvater sein will. Dehmel drückt das natürlich viel poetischer aus. Schönberg wiederum inspiriert der zweitklassige Text zu einem Meisterwerk. Suggestiv wird in Tönen ein Drama der Gefühle erzählt, das auch ohne Kenntnis der Vorlage in Bann zieht. Programmmusik in Kammerbesetzung – das ist neu. Von Strauss und Wagner kommt die kühne Harmonik, von Brahms die meisterhafte Verarbeitung der Motive.
Der Tonkünstlerverein lehnt die Partitur ab: zu modern. Arnold Rosé, der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, setzt die Uraufführung trotzdem durch. Das Publikum ist gespalten. Die meisten Hörer schweigen, ein paar junge Leute brüllen Bravo, andere zischen. Zehn Jahre später hört Richard Dehmel erstmals die Musik, die er inspiriert hat – und schreibt an Schönberg: "Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Komposition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Komposition bezaubert." Und das ist nicht die schlechteste Art, die "Verklärte Nacht" zu hören. Zweifelhafter Anlass, großartige Wirkung.
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