Sankt Petersburg, 24. April 1874. "Der Leibwächter" von Peter Tschaikowsky wird am Marinskij Theater uraufgeführt. Tschaikowsky geht bei dieser Oper auf Nummer sicher: Seine Wahl fällt auf einen tragischen, einen grausamen, einen durch und durch russischen Stoff in russischer Sprache! Damit sichert er sich schon mal Pluspunkte beim Publikum.
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"Opritschniki" heißt die Textvorlage, also "Die Leibwächter", von Iwan Lashetschnikow. Weil Tschaikowsky keinen neben sich duldet, abgesehen von dem unvermeidlichen Herrn aus der Zensurbehörde, schreibt er das Libretto selbst. Gut zwei Jahre komponiert er an der Oper und versenkt sich dafür in die Machenschaften der "Opritschnina" – der gefürchteten, brutalen Leibgarde des Zaren.
Schaurig und kompliziert ist die Handlung der Oper, die im 16. Jahrhundert – also während der Herrschaft von Zar Iwan dem Schrecklichen – angesiedelt ist. Blutrünstig ist das Ende, in dem der Sympathieträger hingerichtet wird, sein Mütterlein vor lauter Seelenschmerz tot umfällt und die kaltblütige Leibgarde den Zaren feiert. Sicher kein Stück zum Zurücklehnen und Entspannen. Aber das kann Tschaikowsky sowieso nicht. Mit jedem Probentag verschlechtert sich seine Laune. Tschaikowsky ist nervös, hitzköpfig und extrem unzufrieden. Er warnt seine Freunde vor der Premiere. An einen Schüler schreibt er: "Sollten Sie wirklich ernstlich die Absicht haben zu kommen, so bitte ich Sie sehr, dieses Vorhaben aufzugeben. An der Oper ist nichts Gutes dran!"
Die Oper ist so schlecht, dass ich es schon bei den Proben nicht aushalten konnte.
Jetzt ist Tschaikowsky zwar grundsätzlich nicht der Typ, der vor Selbstbewusstsein strotzt. Aber im Fall des "Leibwächters" wiegt die Sache besonders schwer: Tschaikowskys Vater hat sich angekündigt. Das Verhältnis der beiden war nie besonders gut. Und es ist das erste Mal, dass sich der mittlerweile 79-jährige eine Premiere des Sohnes ansieht. Während der Vater die Oper genießt, zerfleischt sich der Sohn innerlich: "Die Oper ist so schlecht, dass ich es schon bei den Proben nicht aushalten konnte und davonlief, um keinen Ton mehr zu hören; in der Vorstellung war mir zumute, als müsse ich versinken vor Scham", schreibt er anschließend.
Das Publikum hingegen hat offenbar einen völlig anderen Geschmack. Es applaudiert nämlich bereits nach dem zweiten Akt so begeistert, dass Tschaikowsky vor dem Vorhang erscheinen muss. Verschämt verbeugt sich der Komponist. Aber: Trotzdem das Stück so großartig angelaufen ist, bleibt der Erfolg auf Dauer aus. Eigentlich genau so, wie es Tschaikowsky schon die ganze Zeit gespürt hat: "Der Leibwächter" kann sich auf den Opernbühnen nicht durchsetzen.
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