Als erster amerikanischer Dirigent nach dem Krieg steht Leonard Bernstein am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Noch kennt man den jungen Künstler jüdischer Abstammung in Europa kaum - die Musiker sind skeptisch.
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Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht ein junger Gastdirigent. Noch kennt man ihn kaum in Europa. Doch sein Name wird in die Geschichte eingehen: Leonard Bernstein. Generalmusikdirektor Georg Solti hat den jüdischen US-Künstler für ein Akademiekonzert im Prinzregententheater eingeladen. Und anders als Artur Rubinstein oder Isaac Stern, die Deutschland boykottieren, ist der 29-Jährige auch tatsächlich gekommen: als erster amerikanischer Dirigent nach dem Krieg. Eigentlich will er die Lager in Feldafing und Landsberg bei Dachau besuchen und dort mit überlebenden Musikern spielen.
Die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, war für mich, (…) in München ein Konzert des Staatsopernorcheters zu dirigieren.
Als Bernstein in der Stadt ankommt, herrscht Ausnahmezustand: Alles ist zerstört und die Menschen hungern, stehlen und betteln um Brot. Löhne werden oft in Form von Zigaretten gezahlt. Nicht anders geht es in der Staatsoper zu, wo in den letzten Wochen zahlreiche Musiker infolge von Unterernährung zusammengebrochen sind und Streiks den Betrieb tagelang lahmgelegt haben. Auch hier werden bei der ersten Probe Zigaretten verteilt, doch die Stimmung im Orchester ist trotzdem schlecht. Dass Bernstein eine Symphonie von Roy Harris aufführen und Maurice Ravels Klavierkonzert vom Flügel aus leiten will, mag noch angehen. Aber Schumanns C-Dur Symphonie traut das Orchester dem jungen Amerikaner einfach nicht zu.
Die Musiker wollten nicht einmal von ihren Notenpulten zu mir hinaufschauen.
Ein halbe Stunde nach Probenbeginn hat das Ausnahmetalent alle in seinen Bann geschlagen. Der Mann ist tatsächlich ein „Hexenreiter“, wie man Bernstein zwei Tage später in der Zeitung nennen wird: ein „mit Musik Geladener, der das Orchester zur Hergabe des Letzten an Klangschönheit und elastischer Subtilität des Vortrags zwingt.“
Das wird der bejubelte Jungstar auch im weiteren Verlauf seiner Europa-Tournee beweisen: in Mailand, Budapest, Wien, Paris und Scheveningen. Doch eigentlich ist ihm auf dieser Reise nur ein Konzert wichtig: Als Bernstein am 10. Mai 1948 mit 20 Holocaust-Überlebenden in Feldafing und Landsberg musiziert, sitzen 10.000 Lagerinsassen im Publikum, auch die Musiker des Staatsopernorchesters sind darunter.
Mein Herz hat geweint. Es war schön, durch Musik sich den Menschen zu nähern, die vorher nur Hass empfunden hatten.
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