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Im Geiste Beethovens Ein Gespräch mit Jörg Widmann über sein Orchesterwerk "Con brio"

Am 15. November kam Jörg Widmanns Konzertouvertüre "Con brio" im Rahmen von Valery Gergievs Projekt "MPHIL 360°" zur Aufführung. Aus der Taufe gehoben wurde das Werk vor sieben Jahren - im September 2008 - von Mariss Jansons und dem BR-Symphonieorchester. Vor der Premiere sprach Sybille Kaiser mit dem Komponisten über sein von Beethoven beeinflusstes Stück.

Jörg Widmann | Bildquelle: Marco Borggreve

Bildquelle: Marco Borggreve

Sibylle Kayser: Herr Widmann, in Ihrem neuen Orchesterstück "Con brio" nehmen Sie explizit Bezug auf die Musik Ludwig van Beethovens. Welche Überlegungen haben Sie dazu veranlasst?

Jörg Widmann: Als Mariss Jansons mich anrief, um mich zu fragen, ob ich ein Stück für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks schreiben wolle, teilte er mir mit, dass es zusammen mit einem reinen Beethoven-Programm aufgeführt werden sollte. Und er hat sich auf unglaublich höfliche Art gewünscht, dass ich in irgendeiner Form auf Beethoven eingehe, namentlich auf die Symphonien Nr. 7 und Nr. 8. Mein Beethoven-Bezug beginnt bereits mit der Besetzung, denn die ist bei diesen Symphonien besonders. Es gibt dort keine vier Hörner oder Posaunen wie etwa in der Neunten Symphonie. Nein, Beethoven macht diesen unglaublichen »Lärm« mit nur zwei Hörnern, zwei Trompeten und Pauken. Meiner Ansicht nach entfacht er diesen musikalischen Furor gerade, weil er diese reduzierte Besetzung hat. Man komponiert ja anders, wenn man mehr Auswahl hat. In solchen Fällen dosiere ich und verteile das Material auf alle Instrumente. Aber wenn man weiß, dass alle Blech-Attacken von diesen vier Leuten plus Pauke kommen müssen, dann arbeitet man konzentrierter. Also allein schon dieser Aspekt hat mich sehr fasziniert. Ich übernehme also die Besetzung der beiden Symphonien Beethovens: doppeltes Holz (2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte), wenig Blech (2 Hörner, 2 Trompeten) plus Pauke  und Streicher.

Sibylle Kayser: Gibt es auch Zitate, die Sie in das Stück eingearbeitet haben?

Jörg Widmann: Nein, ich zitiere keine einzige Note. Es ist der Gestus, den ich übernehme. Als ich mich nach dem Telefonat mit Mariss Jansons eingehend mit diesen beiden Symphonien Beethovens beschäftigte, wurde ich nach einigem respektvollen Zögern von einer wahren Begeisterung erfasst. Das hat auch damit zu tun, dass sich mein Komponieren kurz vorher genau in diese Richtung veränderte: Mich interessieren jetzt die Schnitte und Brüche viel mehr als reibungslos funktionierende Übergänge. Noch bis zu meinem Stück Armonica (2007) ging es mir sehr um Klangverschmelzung – dort kann man in keinem Moment erkennen, welches Instrument gerade spielt, es ist ein Kosmos von Schwerelosigkeit. Aber hier, in Con brio, steht blockhaftes Denken im Vordergrund. Bereits in meinem letzten Orchesterstück Antiphon, geschrieben für das hr-Sinfonieorchester (Uraufführung im Februar 2008), habe ich mit harten Schnitten gearbeitet. Allerdings handelt es sich dort um ein Werk für ein riesiges Orchester, es beginnt mit einer vierfach besetzten Trompetenfanfare. Hier nun habe ich mir bewusst Beschränkungen auferlegt, beginnend bei der Besetzung, aber auch in Bezug auf die Dauer – das Stück wird ca. acht Minuten lang sein, also eher Ouvertürenlänge haben. Vom Genre her ist es zwischen festlich-feierlichem Ouvertürengestus und – weil das Stück insgesamt sehr schnell ist – permanentem Finalcharakter angesiedelt, und es ist gespickt mit grimmigen Scherzo-Elementen.

Informationen zu "Con brio"

Entstehungszeit:
2008
Uraufführung:
25. September 2008 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons
Geburtsdatum des Komponisten:
19. Juni 1973 in München
Orchesterbesetzung laut Partitur:
2 Fl. (2. auch Picc.), 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 2 Hrn., 2 Trp., 5 Pk. (1 Spieler), Streicher

Sibylle Kayser: Ihre Bezugnahme auf die Musik Beethovens geht also auf eine Anregung von Mariss Jansons zurück – der Entschluss, ein kurzes, konzentriertes Stück, eben laut Untertitel eine "Konzertouvertüre für Orchester" zu schreiben, ist jedoch Ihr ureigener. Können Sie die Gründe dafür nennen?

Jörg Widmann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Komponist Jörg Widmann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann: Ich hatte das große Glück, einige Male zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf der Bühne zu stehen – wir haben Wolfgang Rihms Musik für Klarinette uraufgeführt und im Mozartjahr das Klarinettenkonzert KV 622 gespielt. Wenn man einmal mit einem Orchester dieses Klarinettenkonzert von Mozart vorgetragen hat, dann kennt man sich anschließend, denn bei Mozart kann man nichts verbergen. Meiner Ansicht nach ist eine der großen Stärken dieses Orchesters seine überbordende und spritzige Virtuosität. Dazu kommt noch die vielfältige Erfahrung mit zeitgenössischer Musik aus den musica-viva-Konzerten, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Jedes Orchestermitglied ist bestens vertraut mit den modernen Spieltechniken, Berührungsängste gibt es hier nicht. Woanders könnte es einem schon passieren, dass sich der Pauker weigert, auf den Fuß seines Instrumentes zu schlagen. Hier heißt es höchstens: "Wohin genau?"

Sibylle Kayser: Das heißt, Sie haben beim Komponieren das Orchester "vor Augen". Spielt es für Sie eine große Rolle, für wen Sie ein Stück schreiben, wer der Adressat der Partitur ist?

Jörg Widmann: Natürlich, das ist sehr wichtig für mich! Ein Orchester ist für mich ein Lebewesen, wie auch jeder Ton für mich ein Lebewesen ist. Daher ist es für mich unverzichtbar, zu wissen, für wen ich schreibe. Das soll nicht heißen, dass andere Orchester das Stück dann nicht auch spielen können. Aber ich schreibe zum Beispiel für das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin anders als für die Wiener Philharmoniker. So ist etwa Armonica – ein Orchesterstück mit Glasharmonika – für den sehr speziellen kammermusikalisch verschmelzenden Wiener Klang geschrieben. In unserem Fall ist es ein schnelles, kompaktes, formal experimentelles Stück von zum Teil artistischer Spielfreude geworden.

Sibylle Kayser: Gibt es denn bei der formalen Anlage dieser Komposition ebenfalls eine Annäherung an Beethoven, der ja dafür bekannt ist, seine Werke "gebaut" zu haben?

Jörg Widmann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann: Gerade bei diesem Stück habe ich viel im Vorhinein über die formale Disposition nachgedacht. Bis dahin war ich eher ein Komponist, der sich leiten ließ, um dann den Formverlauf in irgendeiner Weise wieder zurück zu zwingen. Hier denke ich ganz anders, ich plane genau, was wann kommt. Das Stück ist sehr kleingliedrig, soll aber doch als ein Ganzes wahrgenommen werden. Daher orientierte ich mich an einem Scherzo-Gestus, der viel mit Wiederholungen arbeitet. Bisher gab es in meiner Musik keine Wiederholungen. Hier verwende ich sie absichtlich. Alles geschieht so schnell, und auch harmonisch passiert so viel auf engstem Raum – man muss es einfach ein zweites Mal hören, um die kleinen Unterschiede wahrnehmen zu können. Auch in rhythmischer Hinsicht gehe ich auf die Musiksprache Beethovens ein. So verwende ich zum Beispiel dessen Prinzip, die "Eins", also die betonte erste Zählzeit, durch schroffe Akzente auf unbetonten Zählzeiten auszuhebeln. Ich fragte mich bei diesem Stück ständig: Wie klar darf ich werden? Wann kommt die "Eins"? In puncto Harmonik ist die Bezugnahme auf die Symphonien Nr. 7 und 8 ebenfalls gegeben. Ich nehme die Tonarten der beiden Symphonien (A und F), um mit der Terzverwandtschaft ›f-a‹ zu spielen. Es kommen durchaus Dur- und Molldreiklänge vor, aber nicht etwa als sentimentale Reverenzen an die Tonalität. Das ist ja das Geniale an Beethoven, dass er so vollkommen unsentimental ist. Deshalb gehen einem Sätze wie etwa die Cavatina aus seinem Streichquartett op. 130 so besonders nahe, weil sie wie Inseln das zulassen, was er sich und uns in den Sätzen zuvor und danach verweigert hat. Und schließlich beziehe ich mich auf seine – wir würden aus heutiger Sichtweise das Adjektiv "postmoderne" voranstellen – Dekonstruktionsarbeit. Beethoven spielt in der Achten Symphonie mit dem Haydn’schen Formmodell, er setzt Blöcke zusammen, deutet Reprisen an und schreibt ein Menuett über ein Menuett oder einen Schluss über einen Schluss. Er hinterfragt den Finalsatz, indem er den Finalgestus auf eine so banale Weise betont. Außerdem hat Beethoven in der Achten Symphonie etwas gemacht, was zu seiner Zeit revolutionär war: Er stimmte die Pauken in Oktaven. Diese wirkungsvolle Verwendung der Pauken hat mich dazu veranlasst, auf jegliches Schlagzeug und Perkussionsinstrument zu verzichten. Ich verwende wirklich nur die Besetzung dieser genannten klassischen Symphonien, allerdings muss der Pauker seine Instrumente im Verlauf des Stückes mehrfach umstimmen und eben auch auf andere Stellen als auf das Fell schlagen, also auf den Rand, den Kessel oder auf die Befestigungsstäbe.

Sibylle Kayser: In welchen Momenten gehen Sie ganz deutlich ins 21. Jahrhundert und verwenden eine moderne Klangsprache?

Jörg Widmann: Durchgehend. Wenn etwa, wie gleich zu Beginn, ein F-Dur-Akkord auftaucht, muss er immer im Kontext gesehen werden. Hier ist das ein unmittelbar darauf folgender purer Luft-Klang der Bläser, der in seiner ganzen Klanglichkeit das vorangegangene F-Dur mehr als in Frage stellt, ja, es gleichsam »aufsaugt«. Das Wann und das Wie des Aufeinanderprallens der scheinbar miteinander unversöhnlichen Klangwelten stehen im Vordergrund, nicht die bloße Addition der einzelnen Klangelemente. Darüber hinaus spielt bei mir der Parameter der Klangfarbe durchaus eine Rolle, die zu Beethovens Zeit noch nicht so relevant war. Außerdem gestehe ich den Kontrabässen eine eigene Stimmführung zu – Beethoven koppelte sie noch an die Celli. Und dann die Wiederholungen: Bei den wiederholten Teilen wird man nicht zwei Mal dasselbe hören, sondern sie enthalten meist einen hohen Geräuschanteil. Das klingt dann, als wenn sich die Blöcke "gesund" und "skelettiert" gegenüber stünden.

Sibylle Kayser: Heißt das, dass selbst Sie als Komponist moderne Klänge und Spieltechniken als unnatürlich empfinden?

Jörg Widmann: Mit einem Blasinstrument einen Luft-Klang zu erzeugen, erscheint mir als das Natürlichste der Welt. Ich unternehme hier teilweise Reisen in entlegenste (auch in der Neuen Musik zum Teil noch gar nicht standardisierte) Klangbereiche. Aber ich verwende dafür nicht Elektronik, sondern Bläser, Streicher und Pauken. Deren Klangaura wird auch bei den extremsten Spieltechniken immer mitschwingen. Ich bin jemand, der mit archaischen Klangtypen – in diesem Stück zum Beispiel mit Hornquinten – lustvoll arbeitet, um damit etwas ganz Anderes, etwas Neues zu machen. Da sehe ich mich ganz in der Tradition von Arnold Schönberg, der ja nur aus der tiefsten Kenntnis der Musikgeschichte heraus das Tonsystem revolutionieren konnte. Dieses Selbstverständnis ist mir sehr nah, nämlich weiter zu gehen, weil man die Musik und ihre Geschichte so liebt.

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