Musik sei eine grenzüberschreitende, universelle Kunst, heißt es immer wieder. Doch sind der Frack des Orchestermusikers und das Tattoo des Rock-Stars wirklich so eng verwandt, wie es Freunde einer Crossover-Philosophie gerne postulieren? Manchmal schon, denn Musik ist immer wieder für Überraschungen gut. Eine musikalische Geschichte über eine außergewöhnliche Nachbarschaft in London.
Bildquelle: © BR-KLASSIK
London war schon immer eine Reise wert, gerade für Musiker mit Karriere-Ambitionen, denn bereits in der Barock-Zeit hieß es: "In Italy and France is something to be learned. In England something to be earned." (In Italien und Frankreich kann man was lernen, in England was verdienen) Bis ins 20. Jahrhunderts war London die Finanzmetropole der westlichen Welt, die unternehmerisch wagemutigen Künstlern ungeahnte Möglichkeiten zu bieten hatte. Und haben sie sich nicht alle aufgemacht, die Großmeister der klassischen Musik, um an der Themse ihr finanzielles Glück zu suchen? Der junge Mozart, der alte Haydn und viele andere auch?
London, das ist jedoch auch "Swinging London" , die kunterbunte Stadt der Sixties, das flippige "All You Need is Love"- Zentrum von Pilzkopf, Beat und Minirock. "Rock meets Classic" ist deshalb ein Phänomen, das der aufmerksame Besucher der britischen Metropole in den erstaunlichsten Ausprägungen entdecken kann.
London heute, das Viertel Mayfair, im Westen von Piccadilly Circus und Regent Street. Mayfair bedeute Glanz, Eleganz, große Gesellschaft, sei gleichzusetzen mit luxuriösem Lebensstil, schreibt London-Chronist David Piper. Seit ihrer Bebauung ist die einstige Jahrmarktswiese "Mayfair" eine Gegend der Blaublütigen und Erfolgreichen, in der sich Residenzen des Hochadels an behagliche Stadthäuser reihen. Eines davon liegt in der Brook Street, die von der noblen Bond Street Richtung Westen führt.
Komponist Georg-Friedrich Händel | Bildquelle: picture alliance / Photoshot
Das Haus, das wir suchen, Brook Street Nummer 25, ist das zweite einer Häuserzeile. Es ist schmucklos, schmal und dreistöckig, zwei Sprossenfenster pro Etage, eine unauffällige Backstein- Fassade, die Smog und Abgas-Partikel grau-patiniert haben. Einzig eine blaue Denkmal-Plakette des "English Heritage" weist auf die herausragende geschichtliche Bedeutung des Gebäudes hin: "George Frideric Handel, 1685 bis 1759, lebte in diesem Haus ab 1723 und starb hier". Brook Street 25, Händels Londoner Adresse, ist ein Haus mit musikalischem Kult-Status, vergleichbares gilt jedoch auch für das direkt angrenzende Gebäude, die Nummer 23, denn dort ließ es eine Ikone der Rock-Musik so richtig krachen: der Gitarrist aller Gitarristen: Jimi Hendrix.
Brook Street 25, Wand an Wand mit Brook Street 23, Barock-Perücke neben Afrolook, Generalbass neben Rückkopplungseffekt, sind hier zwei Dinge in trauter Nachbarschaft vereint, die eigentlich nicht zusammen gehören dürfen? "Oh , für uns ist das manchmal ganz nützlich. Vor allem, wenn wir mit Schülern arbeiten. Wir bieten ihnen Kompositions-Workshops an, für die wir Musik von Händel und Hendrix gesampelt haben.", sagt Sarah Bradwell. Die großgewachsene Engländerin ist Direktorin des Museums, das 2001 in Händels Londoner Anwesen eröffnet wurde. "Aus diesen Elementen können die jungen Leute eigene Stücke erstellen. Auch wenn das dann meist eher mehr nach Hendrix klingt."
Dieses Haus ist ein einzigartiges Haus in der Musikgeschichte
Unterwegs im Händel-House-Museum. Die Holz-Stufen, die unter unseren Füßen knarren, sollen noch "Original-Händel" sein. Historische Porträts an restaurierten Wänden. Ein dreimanualiges Cembalo wird Musikstudenten zum öffentlichen Üben zur Verfügung gestellt. Der im sächsischen Halle geborene Hofkomponist der Königlichen Kapelle ist der erste Mieter des Mayfair-Gebäudes, für das er jährlich stolze 50 Pfund , den Jahresverdienst eines Handwerksmeisters, berappen muss. "In dem Sommer, in dem, Händel hier einzog, schrieb er "Julius Cäsar" und von da an entstanden alle seine weiteren Kompositionen hier in diesem Haus. London war Händels Lebensmittelpunkt, diese kulturell dynamische Stadt , dieses Zentrum des 18. Jahrhunderts.", sagt Bradwell über die Arbeit des Komponisten in London. "Unser Haus ist eine wichtige Adresse, gerade auch, weil hier der "Messias" entstanden ist, in jenen unglaublichen drei Wochen des Jahres 1741."
Rock-Gitarrist Jimi Hendrix | Bildquelle: picture alliance / AP Photo
Dem Besucher des Händel-Museums wird jedoch nicht nur die barocke Welt des Klassik-Meisters nahe gebracht, auch der rockende Geist des rebellischen Nachbarn Jimi Hendrix wird hier voller Stolz beschworen. Aus gutem Grund: Denn die Büros der Händel-Gedenkstätte sind – auch dank eines Wanddurchbruchs - dort eingezogen, wo die früh verstorbene Woodstock-Legende ihre Londoner Bleibe gefunden hatte. "Unsere sieben Mitarbeiter sind im Appartement von Jimi Hendrix untergebracht. Es gibt eine Küche, ein Bad, einen Aufenthaltsraum. Hendrix ist jedoch nicht hier gestorben, er lebte hier 18 Monate von 1968/ 1969 und starb in einem Hotel in Notting Hill. Hendrix wusste, dass er neben dem Haus von Händel lebte und hat sich deshalb auch eine Platte des "Messias" gekauft. Er hat ihn den großen Alten oder so ähnlich genannt", sagt Sarah Bradwell.
Sarah Bradwell führt uns hinüber in die Brook-Street 23. Auf einer engen Hintertreppe steigen wir empor zu der verwinkelten Mansarde, die Hendrix in den 60er Jahren sein Londoner Zuhause nannte. Und auch hier erfahren wir wieder Musikgeschichte aus erste Hand. Denn die Einrichtung der früheren Wohnung stammt zu weiten Teilen noch aus der Hendrix-Zeit: weiße, Hochglanz –lackierte Einbauschränke, eine Küche, die jeder Design-Ausstellung zur Ehre gereichen würde. Vom Türknopf bis zur Bad -Armatur wirkt vieles, als sei der legendäre Rocker gerade mal runter gegangen, um eine Packung Zigaretten zu holen. "Jimi Hendrix lebt", in der Nachbarschaft zu Händel erhält dies eine besondere Bedeutung.
Sendung: "Piazza" am 11. Januar 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK