Zürich 1916. In der Spiegelgasse eröffnet ein Etablissement "Cabaret Voltaire", das eine neue Kunst-Auffassung propagiert: Dada. Auf der anderen Straßenseite lebt Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin, im Schweizer Exil. Die Operette "Cabaret Voltaire" spielt mit den Schnittpunkten zwischen Weltgeschichte und Weltverweigerung, zwischen der gewollten Sinnlosigkeit des Wortes und der ungewollten Sinnlosigkeit von Revolution und Gewalt.
Bildquelle: © Astrid Ackermann/die taschenphilharmonie
BR-KLASSIK: Herr Stangel, Ihr neues Stück heißt "Cabaret Voltaire", es spielt in Zürich und es kommen eine Menge Personen drin vor, z. B. solche Berühmtheiten wie Lenin und James Joyce. Wie kommt es zu so einem Sammelsurium von Persönlichkeiten?
Peter Stangel: Dieses Sammelsurium entspricht tatsächlich einer historischen Konstellation. 1916, während des Ersten Weltkriegs, war Zürich eine Art Insel der Seligen, da sind wirklich alle hin geflüchtet, die konnten. Hugo Ball, einer der führenden Dadaisten, kam ja von den Kammerspielen in München, und James Joyce war tatsächlich in Zürich. Lenin war dort im Exil mit seiner Frau. Er ist dann im plombierten Zug von Deutschland nach Russland gefahren, um dort Revolution zu beginnen - das ist auch Thema unseres Stücks.
In der Spiegelgasse 1 wurde das "Cabaret Voltaire" eröffnet. Das war eine Ansammlung von jungen Leuten, die kreativ waren und Rabatz machen wollten. Auf der anderen Seite der Spiegelgasse hat Lenin gewohnt. Und es gibt tatsächlich eine Briefstelle, in der er sich beschwert hat über den Radau, den die Leute vom Cabaret Voltaire immer nachts gemacht haben. Wir haben das ausgebaut - denn das ist ja ein wunderbares Setting für eine neue Operettenvorlage. Es gibt eine historische Konstellation, die wir völlig unkorrekt neu zusammensetzen, wie ein Puzzle. Tatsächlich ist Lenin erst 1917 nach Russland gefahren, und wir mischen noch eine Spionagegeschichte hinein, die es auch tatsächlich gegeben hat, aber nicht in Zusammenhang mit Cabaret Voltaire. All das bringen wir zusammen zu einer völlig unglaubwürdigen und deshalb gerade glaubwürdigen Operettenhandlung.
BR-KLASSIK: Die Musik klingt nach Zwanzigerjahren: schmissig, unterhaltsam, tänzerisch. Wie beurteilen Sie das als Komponist?
Peter Stangel: Das freut mich, wenn das so rüberkommt. Tatsächlich war die Idee: Kann man der Operette ein neues und intelligentes Leben einhauchen? Ich mag besonders das Spöttische, Leichte, Witzige. Und ich würde es mal so auf den Punkt bringen: Wenn Offenbach, Strawinsky und Weill sich in einer Kneipe getroffen, dabei zu viele Weinflaschen geleert und dann nachts noch eine Operette geschrieben hätten - so etwas wie "Cabaret Voltaire" könnte dabei herausgekommen sein.
BR-KLASSIK: Das wär auch meine Frage gewesen: Muss Operette 2016 nicht anders klingen als die Evergreens, die wir immer wieder spielen?
Peter Stangel: Ich bin auch der Ansicht, dass Operette als historische Form beinahe überholt ist. Man kann sehr wohl Musiktheater schreiben oder Stücke, die sich damit beschäftigen, was eine gesungene Stimme mit einer Geschichte zu tun hat. Eine klassische Oper ist für mich schon problematisch, eine klassische Operette hingegen nur dann denkbar, wenn sie so ein leichtfüßiges Beinahe-Zitatniveau hat. Aber wenn ich ein "heutiges" Stück schreiben wollte, dann wäre es keine Operette. Das hier ist eben eine Referenz an die Operette mit dem Versuch, intelligent zu unterhalten.
BR-KLASSIK: Das von Ihnen gegründete Orchester "taschenphilharmonie", gibt es jetzt seit über zehn Jahren. Ihre Säle sind zum Glück voll, ihr Publikum ist deutlich gemischter als das durchschnittliche Klassik-Publikum. Was machen Sie anders?
Peter Stangel: Wir sind kleiner besetzt, was auch meine Absicht ist. Es wird jedem Klang ein Mensch zugeordnet. Dann erzähle ich etwas zu den Stücken: zu den Komponisten, ihrer Umgebung und wie die Stücke entstanden sind. Das ermöglicht vielen Leuten, anders hinzuhören.
BR-KLASSIK: Sie machen das Ganze also ein bisschen greifbarer?
Peter Stangel: Ich mache es vielleicht zugänglicher. Ich möchte klassische Musik nur dann spielen, wenn sie heute direkt an uns dran kommt, ich möchte kein klingendes Museum haben. Ich bin wahnsinnig begeistert von meinem Ensemble, weil die so wahnsinnig engagiert sind. Die spielen nie Noten, die machen Musik mit der ganzen Seele.
Das Interview führte Annika Täuschel für BR-KLASSIK.
"Cabaret Voltaire"
Eine Operette von Peter Stangel (Musik) und Jürgen von Stenglin (Text)
Sonntag, 11. September 2016, 19:00 Uhr
Alte Kongresshalle, Theresienhöhe 15, München
Taschenphilharmonie
Dirigent: Peter Stangel