Übersetzungen altern, Originale nicht - darin besteht eines der großen Mysterien der Literatur. Gerade durch eine Neudeutung scheint sich ein Klassiker am Leben zu erhalten. Der Münchner Romanist Hermann Lindner hat jetzt George Sands berühmtes Mallorca-Buch in unsere Zeit geholt - auf ganz unspektakuläre Art. Dennoch rauscht es - und flirrt und stürmt und schäumt.
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Der Buch-Tipp zum Anhören
"Eines Morgens, nachdem der Wind uns die ganze Nacht hindurch mit seinem langen Stöhnen ein unsanftes Wiegenlied angestimmt hatte, während der Regen an die Fenster schlug, hörten wir, als wir aufwachten, wie sich der Bergbach allmählich seinen Weg über das steinige Bett suchte", berichtet die Schriftstellerin. "Tags darauf war seine Stimme noch lauter geworden; wieder einen Tag später trieb er die Felsblöcke, die seinen Lauf behinderten, vor sich her. Die Bäume hatten sämtliche Blüten verloren, und der Regen drang durch die undichten Türen in unsere Zimmer herein."
Die Männer lesen nicht, die Frauen machen nicht einmal Näharbeiten.
George Sand | Bildquelle: picture-alliance/dpa George Sand ist eine präzise Beobachterin. Ein Reisebuch soll es werden, eine Hymne an die Landschaft, die sie so sehr liebt. Aber immer wieder kommt die hochnäsige Intellektuelle durch, die keinen Zugang zu den ihr fremden Mallorquinern findet: "Die Männer lesen nicht, die Frauen machen nicht einmal Näharbeiten", beklagt sie sich. "Der einzige Hinweis auf irgendwelche Tätigkeiten im Haushalt ist der Geruch nach Knoblauch, der dokumentiert, dass da gekocht wird; und die einzigen Spuren von häuslichen Vergnügungen sind Zigarrenstummel, die auf den Steinfußböden herumliegen."
Von milder Ironie bis zum bitteren Sarkasmus: George Sand beherrscht die ganze Palette des Spotts. Und doch schafft sie, was man dieser verwöhnten Großstadtdiva nicht zugetraut hätte: sich trotz widriger Umstände (ein lungenkranker Lebensgefährte, wochenlanger Dauerregen, unfreundliche Einheimische) an der herben Schönheit dieser Insel zu berauschen. Immer wieder findet sie zu intensiven Naturbeschreibungen: "Gegen Abend wechselt die Farbe dieser Landschaft von Stunde zu Stunde und gewinnt hierbei mehr und mehr an innerer Harmonie; wir haben sie bei einem Sonnenuntergang in einem glitzernden Rosa gesehen, danach in glänzendem Violett, anschließend in silbrigem Lila und zuletzt, als sich die Nacht hereinsenkte, in reinem, durchsichtigem Blau."
Frédéric Chopin, Gemälde von Eugene Delacroix (1838) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der Name "Chopin" kommt übrigens nicht vor, die Erzählerin versteckt ihn hinter einem "wir". Der schwierige Umgang mit dem leidenden Patienten, der auf Mallorca seine Préludes op. 28 fertigstellt, ist erst Thema in George Sands Autobiografie. Sie erscheint 14 Jahre später - und wird in diesem Mallorca-Buch auszugsweise zitiert: "Wenn ich um zehn Uhr abends mit den Kindern von unseren nächtlichen Streifzügen in den Ruinen zurückkehrte, fand ich ihn an seinem Klavier, sein Gesicht war bleich, die Augen verstört, die Haare standen ihm zu Berge; und es dauerte immer einige Zeit, bis er uns wiedererkannte. Dann brach er in ein künstliches Lachen aus und spielte uns überirdisch schöne Stücke vor, die er gerade komponiert hatte."
Geschmeidig, elegant und auf zauberhafte Weise zeitlos ist diese neue Übertragung ins Deutsche. Weil sie nicht gewaltsam "poetisch" sein will. So hat in einer älteren Übersetzung der Handel mit Obst "wegen der dürftigen Wegeverhältnisse längst nicht die mögliche Ausdehnung und Betriebsamkeit". Da ist das Obst vertrocknet, bevor der gestelzte Satz zu Ende ist. Bei Lindner heißt es einfach: "Da es zu wenig Wege gibt, kommt der Handel damit lange nicht so in Schwung, wie es sein müsste."
"Ein Winter auf Mallorca" - was für ein schönes November-Buch über die Musik Chopins. Und über eine nasskalte und faszinierende Insel. Eine wunderbare Lektüre, vor allem wenn man selber im Trockenen und Warmen sitzt. Wie schreibt George Sand über Chopins "Regentropfen"-Prélude, das auf Mallorca entstand? "Für diese Komposition hatte er gewiss die vielen Regentropfen, die auf die Ziegel der Kartause prasselten, ohne es zu merken, in sich aufgenommen, aber danach hatten diese sich in seiner Phantasie und in seinem inneren Gesang in Tränen verwandelt, die vom Himmel ihm ins Herz getropft waren."
Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von Hermann Lindner
dtv 2016
376 Seiten
Preis: €18,00