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Buchkritik: Kirsten Flagstad – Die Jahrhundertstimme Lang erwartete Biografie mit Mängeln

Die Norwegerin Kirsten Flagstad, geboren 1895, gehört zu den großen Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts. Als Tochter einer Musikerfamilie hat sie früh Klavier gelernt und Schubertlieder gesungen. Mit 13 beherrschte sie die Partie der Elsa, ein Jahr später die Aida. Als sie 1933 ihr Bayreuth-Debüt feierte, hatte sie schon 75 Rollen in ihrem Repertoire. 1962 ist Kirsten Flagstad gestorben. Jetzt erst, über 60 Jahre nach ihrem Tod, erscheint die erste Biografie über diese "Jahrhundertstimme".

Die Sopranistin Kirsten Flagstad, 1958 | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Flagstad war mit musikalischem Genie und absolutem Gehör auf die Welt gekommen, für die Außenwelt und ihre Zeitgenossen besaß sie jedoch kein besonderes Fingerspitzengefühl.

Dieser Satz steht auf der ersten Seite dieser Biografie – in einer fünfseitigen Einleitung, die schon mal kurz alles erzählen will und doch bei der Leserin nur heillose Verwirrung stiftet. Da geht's in einem Halbsatz um die Qualität der Stimme ("vergleichbar mit hellen Sonnenstrahlen"), ein paar Zeilen weiter um Richard Wagners "uralte nordische Mythen" ("als Rohmaterial für seine Opern") und auch um das Schicksal der Flagstad ("deckt sich oft mit den Wagner-Opern, die sie gesungen hat").

NICHTSSAGENDES WORTGEWABER

Kirsten Flagstad als Brünhilde in dem Film "The Big Broadcast of 1938" | Bildquelle: picture-alliance/dpa Kirsten Flagstad 1938 als Brünnhilde | Bildquelle: picture-alliance/dpa Nichtssagendes Wort-Gewaber, das nicht zu fassen ist. Schließlich folgt der Hinweis, das Buch sei "für ein internationales Publikum geschrieben worden". Und weiter: "Da es über das musikalische Leben in unterschiedlichen Ländern berichtet, kann es Opernliebhabern und Musikinstitutionen in aller Welt von Nutzen sein." Das steht auf Seite elf – und man möchte jetzt eigentlich aufhören, diese 430-seitige Biografie zu lesen.

Doch man hat ja noch nichts über Kirsten Flagstad erfahren. Die wird im ersten Kapitel erst einmal beerdigt: "Nachdem alle Trauergäste die Kapelle verlassen hatten, machte sich das Bestattungsunternehmen ans Werk." Im zweiten Kapitel gibt sie, im April 1947, ein Recital in Philadelphia, bei dem sie von Demonstrierenden als Nazi-Sympathisantin beschimpft wird. Dieser für die Flagstad gewiss zutiefst verstörende Vorfall wird aber weder erklärt noch analysiert. Wir lesen nur: "Der Pianist, der sie begleiten sollte, war ganz blass. Er wirkte verängstigt und rechnete mit dem Schlimmsten."

PLATTITÜDEN, ODER: WISSENSCHAFTLICH SCHREIBEN GEHT ANDERS

Dieses Buch, so steht es im Klappentext, basiere auf zahlreichen, bisher unveröffentlichten Quellen. Versprochen werden uns "fundierte Einblicke in das berufliche und private Leben einer legendären Sängerin". In Wahrheit stellt die Autorin nur Mutmaßungen an und macht unverfängliche Beobachtungen, wechselt unmotiviert die Erzählperspektiven und wirft munter Präsens und Imperfekt durcheinander. Und zitiert immer wieder banale Kritikerphrasen. Analyse und eigene Meinung: Fehlanzeige.

Kirsten Flagstad – Die Jahrhundertstimme

Von Ingeborg Solbrekken
btb-Verlag, 2023
480 Seiten, Hardcover
€32,-

Buchcover "Kirsten Flagstad - Eine Jahrhunderstimme" | Bildquelle: btb-Verlag Ausschnitt aus dem Cover des Buches "Kirsten Flagstadt - Die Jahrhunderstimme" | Bildquelle: btb-Verlag Ebenfalls laut Klappentext beschäftigt sich Ingeborg Solbrekken "bereits seit über zwanzig Jahren wissenschaftlich mit Kirsten Flagstad". Ihr Fachwissen hat die Autorin allerdings gut versteckt. Wir werden mit Worthülsen und Plattitüden abgespeist – ob bei der Beschreibung von Flagstads Auftritten oder dem Versuch, ihre Stimme zu charakterisieren: "mit Volumen und Glanz und außerdem einem besonderen norwegischen Timbre, das an Himmelblau denken lässt."

Aus dieser Biografie wird keine fesselnde Geschichte. Das Buch ist schlecht geschrieben, unbeholfen übersetzt und hat wenig Substantielles zu erzählen. Da entsteht keine Welt – und erst recht keine Vorstellung davon, was Kirsten Flagstad für ein Mensch war. "Die Primadonna der Met" heißt eines der vielen Kurzkapitel – in dem wir nur erfahren, dass sie nicht mit Kollegen auf Bahnsteigen fotografiert werden wollte! Man würde so gern erfahren, was die Menschen an ihrer vokalen Kunst so gefesselt hat. Dieser schön timbrierte hochdramatische Sopran muss auf der Bühne überwältigt haben – mit erschütternder Sanftheit, expressiv, in den unteren Registern voller Wärme. Nichts erfährt man davon …

NAZI-PROPAGANDISTIN – ODER NAIVES OPFER?

Kirsten Flagstad war wohl zeitlebens ein unpolitischer Mensch. Sie dachte sich nichts dabei, als sie 1933 durchs schon mit Hakenkreuzfahnen geschmückte Bayreuth fuhr – und sie verstand auch nicht, warum es 1940 vielleicht keine gute Idee war, in Amerika ein Konzertprogramm mit ausschließlich deutschem Repertoire zu singen. Dieser Part der Biografie ist, obwohl unstrukturiert und stilistisch ebenfalls fragwürdig, der interessanteste – und gibt wenigstens eine Ahnung davon, warum eine gefeierte, aber politisch naive Sängerin zur Nazipropagandistin gestempelt werden konnte. Wie Kirsten Flagstad diese strapaziösen und belastenden Jahre überstanden hat? Dazu noch ein letztes Zitat: "Sie kann nicht besonders entspannt gewesen sein." Keine weiteren Fragen.

Sendung: "Allegro" am 19. Oktober 2023, um 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Donnerstag, 19.Oktober, 12:48 Uhr

Dr. Michael Strobel

Flagstad

Ich habe mir das Buch vor wenigen Tagen gekauft und frage mich, ob niemand mehr Korrektur liest. Stilistisch ist es absoluter Quark, eine grausliche Übersetzung, aber dennoch habe ich mich durchgekämpft. Wer mehr über die Flagstad erfahren will, über ihren Rang als Sängerin, sollte sich lieber eine CD kaufen. Am besten eine Aufnahme mit dem dicken Melchior. Da ist was los!

Donnerstag, 19.Oktober, 11:33 Uhr

Tesaker Kjellaug

Kirsten Flagstad Die Jahrhundertstimme -Buch Solbr

Leider leider ist gerade dieses dillettantisch geschriebene Buch in Deutsch übersetzt worden .
Es ist einpaar viel bessere Biographien auf Norwegisch erschienen, die letzte und wirklich sehr ehrliche, historisch und fachlich korrekte und doch total faszinierend erzählt, ist Eva Marie Lund: "La meg være i fred!" Kirsten Flagstads liv.( Bitte lasst mich in Ruhe!) Dort wird - mit viel Hintergrundrecherche ein Licht auf Seiten ihres Lebens geworfen die man bis jetzt kaum kennt, und kritisch, aber mit grossem Respekt für diese Einmahlige Künstlerin ihre erstaunliche Geschichte erzählt.
Vielleicht könnte man anstoßen das diese Biographie übersetzt werden könnte....

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