Mit seiner berühmten "Sinfonie aus der Neuen Welt" ermutigte Dvorak 1893 sein Gastland Amerika zur Entwicklung eines eigenen Klassik-Sounds. Diese Inspiration zündete bei afroamerikanischen Komponisten der nächsten Generation: Männer wie William Levi Dawson und William Grant Still verschränkten große Sinfonik europäischer Prägung mit Folk, Spiritual und Jazz. Ein fulminanter Mix, der wegweisend für die amerikanische Sinfonik des 20. Jahrhunderts wurde. Zu hören auf dem Album "African American Voices" des traditionsreichen Royal Scottish National Orchestra unter dem Dirigenten Kellen Gray.
Bildquelle: Linn
Der CD-Tipp zum Anhören
William Grant Still gilt als Doyen der afroamerikanischen Komponisten: Der Sohn eines ehemaligen Sklaven kam 1895 im Bundesstaat Mississippi zur Welt. Er startete als Jazz-Musiker und Arrangeur für den legendären Klarinettisten Artie Shaw. Komposition studierte er in Boston beim konservativen George Chadwick und in New York beim avantgardistischen Edgar Varèse. Seine Musik klingt bisweilen nach Dvořák, und atmet doch den Geist seiner Vorfahren. Sie entwickelt Blues und Spiritual zu wahrhaft sinfonischer Größe. Damit war Still ein absoluter Pionier in der klassischen Musikszene und die Liste seiner "historischen" Premieren ist lang: Er war der erste schwarze Komponist, dessen Werke vom New York Philharmonic und der New York City Opera aufgeführt wurden. Er war der erste afroamerikanische Dirigent großer US-Orchester, und einen Banjo-Spieler hat vor ihm wohl auch noch niemand in ein Sinfonieorchester gesetzt.
Dieses Album hat gefehlt, weil ...
... afroamerikanische Komponisten in der Klassik noch immer überhört werden!
Dieses Album muss haben, ...
... wer sich von swingender Sinfonik und Blues im Breitwandsound überraschen lassen will!
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil ...
... es großartige Melodien und Jazzrhythmen gekonnt in Szene setzt!
Sein populärstes Werk ist die vor Esprit, Melodik und Vitalität strotzende Afro-American Symphony. Durch den Titel und Satzüberschriften wie "Longing", "Sorrow", "Humor" und "Aspiration" verwies William Grant Still klar auf den Inhalt: Er erzählt vom Schicksal seines Volkes, das der langen Knechtschaft seinen Glauben und seine Lebensfreude entgegensetzt. Schwarze Kultur und Geschichte musikalisch erlebbar zu machen – das war sein Weg zur Bekämpfung des Rassismus.
Genau wie für William Levi Dawson aus Alabama: Er musizierte als Jazz-Posaunist mit Louis Armstrong und war ein hoch angesehener Chordirigent. Seine Negro Folk Symphony basiert auf einem ständig wiederkehrenden musikalischen Motto, das Dawson als "missing link" bezeichnete, als fehlendes Glied einer menschlichen Kette. Gemeint ist der erste Afrikaner, der aus seiner Heimat in die Sklaverei verschleppt wurde.
Transparente Solostellen und satter Orchestersound, elegische Spiritual-Melodien, ausgelassene Ragtime-Synkopen und gewaltige sinfonische Steigerungen – das Royal Scottish National Orchestra unter Kellen Gray ist überall in seinem Element in dieser stimmungsintensiven und meisterhaft komponierten Musik. William Levi Dawson und William Grant Still haben diese Aufmerksamkeit mehr als verdient: Indem sie sehr erfolgreich afroamerikanische Idiome in die Sinfonik integrierten und populäre Klänge konzerttauglich machten, waren sie an der Entstehung einer wahrhaft amerikanischen Klassik wesentlich beteiligt. Sie profitierten von der "Harlem Renaissance", einem selbstbewussten Aufblühen schwarzer Kultur in den 1920er- und 30er-Jahren - eine kurze Ära großer Hoffnung, die sich bis heute nicht erfüllt hat. Sonst wäre "Black lives matter" längst eine überflüssige Parole.
African American Voices
William Levi Dawson: Negro Folk Symphony
George Walker: Lyric for Strings
William Grant Still: Symphonie Nr. 1 "Afro-American Symphony"
Royal Scottish National Orchestra
Leitung: Kellen Gray
Label: Linn
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