Mit nicht mal 30 Jahren gehört der Brite Timothy Ridout bereits zu den besten Bratschisten der Welt. In einem beglückenden Doppel-Album widmet er sich einem seiner großen Vorbilder: Dem Bratschisten Lionel Tertis, der aus der Viola ein glanzvolles Soloinstrument machte.
Bildquelle: Harmonia Mundi
Dieses Doppelalbum ist eine dreifache Liebeserklärung: An die britische Musik der Spätromantik, die auf dem Kontinent notorisch unterschätzt wird, an die Bratsche mit ihrem verführerisch warmen Klang, und an den Virtuosen, der das Instrument wachgeküsst hat. "A Lionel Tertis Celebration" heißt das neue Doppelalbum des jungen Bratschisten Timothy Ridout. Warum widmet ein 29-jähriger Musiker, der gerade international durchstartet, ein aufwändiges Doppel-Album einem Kollegen vom Beginn des 20. Jahrhunderts? Weil Lionel Tertis der erste Bratschist der Musikgeschichte war, der eine echte Solokarriere machte.
Dazu muss man wissen, dass die Bratsche Zielscheibe der Musikerwitze ist. Bratscher sind die Ostfriesen des Orchesters. Was sehr ungerecht, aber historisch gesehen leider nicht unbegründet ist. Jahrhunderte lang waren Orchesterstimmen für die Bratsche sehr leicht zu spielen. Als hätten es die Bratschisten damals nicht besser gekonnt. Nicht selten landeten minderbegabte Geiger in der Bratschengruppe: Wer’s oben nicht schafft, versteckt sich in der Mitte. So jedenfalls steht es in alten Traktaten. Der Mann, der das änderte, hieß Lionel Tertis. Diesem unerschrockenen Kämpfer für die Ehre eines verkannten Instruments sind alle Bratschistinnen und Bratschisten bis heute zu Dank verpflichtet. Sein junger Kollege Timothy Ridout stattet diesen Dank in der schönstmöglichen Form ab: Er spielt Werke, die es ohne Tertis nicht gegeben hätte.
An Virtuosität fehlte es Tertis nämlich keineswegs, wohl aber an Virtuosenfutter, sprich: an effektvollen Stücken. Und natürlich wollte er zeigen, was auf seinem Instrument entgegen den alten Vorurteilen so alles möglich ist. Deshalb bat Tertis so gut wie jeden Komponisten, der ihm über den Weg lief, um neue Werke für sein Instrument. Und er arrangierte, zum Beispiel Lieder von Johannes Brahms.
Timothy Ridout hat sich liebevoll in das Repertoire seines großen Vorgängers reingefuchst. Und man staunt über die exquisite Qualität der Musik, die auf Initiative von Tertis entstand. Das sind mal sehr angenehm zu hörende nostalgische Stücke, die Titel tragen wie "Keltisches Chanson" und uns beim Hören sofort in einen Salon der good old days versetzen. Das sind aber auch weit ausgreifende, musikalisch dichte Bratschensonaten, absolut erstklassige und unbedingt entdeckenswerte Musik etwa von York Bowen oder Rebecca Clarke, einer Komponistin, die selbst Bratsche spielte und Schülerin von Tertis war. Clarkes Bratschensonate ist ein Meisterwerk – inspiriert vom impressionistischen Klangzauber eines Maurice Ravel.
Timothy Ridout hat einen wunderbar sinnlichen Ton, samtig und leuchtend. Und sehr wandlungsfähig: Bei Brahms klingt er dunkel und satt, bei Gabriel Fauré hell und fein. Begleitet wird er von zwei ausgezeichneten jungen Pianisten: Frank Dupré und James Baillieu. Zwei Stunden mit unbekannter und guter Musik, die in eine beglückende Gegenwelt entführen. Diese Liebeserklärung an die Bratsche ist ebenso charmant wie gehaltvoll, ein bisschen nerdy und gerade deshalb sehr sympathisch.
Timothy Ridout – "A Lionel Tertis Celebration"
York Bowen: Violasonate Nr. 1 c-moll op. 18; Obbligato to Beethoven's Moonlight Sonata
Lionel Tertis: Sunset; Hier au soir
Frank Bridge: Pensiero f-moll
Johannes Brahms: Minnelied C-Dur op. 71 Nr. 5
Robert Schumann: Romanze Fis-Dur op. 28 Nr. 2
Gabriel Faure: Elegie c-moll op. 24
William Wolstenholme: Allegretto Es-Dur op. 17 Nr. 2; The Question op. 13 Nr. 1
Fritz Kreisler: Liebesleid a-moll; Präludium & Allegro im Stile Pugnanis
William Henry Reed: Rhapsody
Eric Coates: Souvenir "First Meeting"
Ralph Vaughan Williams: 6 Studies in English Folk Song
Cecil Forsyth: Chanson celtique
John Ireland: The Holy Boy
Felix Mendelssohn: Lied ohne Worte E-Dur op. 19b Nr. 1
Rebecca Clarke: Violasonate
Künstler: Timothy Ridout (Viola), Frank Dupree (Klavier), James Baillieu (Klavier)
Label: harmonia mundi
Sendung: "Piazza" am 27. Januar 2024 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)