Januar 2013: Moskaus Kulturszene steht unter Schock. Ein maskierter Mann hat Sergej Filin, dem Künstlerischen Leiter der Balletttruppe des Bolschoi Theaters, vor dessen Haus aufgelauert und ihm Säure ins Gesicht geschüttet. Eine ganze Saison lang durften die britischen Filmemacher Nick Read und Mark Franchetti die Ballettkompanie des Bolschoi mit der Kamera begleiten - als das Haus noch unter dem Schock des brutalen Anschlags stand. "Bolschoi Babylon" heißt das dokumentarische Ergebnis - der erste unzensierte Blick auf die Hinterbühne des berühmtesten Balletthauses der Welt.
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Angespannte Gesichter und fest verschnürte Tänzerinnenfüße, vorbeihuschende Tutus, nur schemenhaft zu erahnende Körper im Halbdunkel der Hinterbühne - und dann hebt sich der Vorhang: Was wie das "ganz normale" filmische Porträt einer Ballettkompanie beginnt, ist keins. Kann keins sein nach dem brutalen Säureanschlag auf Sergej Filin. Der meldet sich nach der Tat vom Krankenbett - der Kopf weiß eingepackt wie eine Mumie.
"Ich erschrak. Ich dachte, er würde schießen. Ich schaffte es nicht, das Tor zu öffnen. Ich drehte mich um und wollte fliehen, aber er war schneller und überholte mich. Ich hatte meine Kapuze auf, da traf er mich von unten direkt ins Gesicht. Ich drehte mich um. Aber sein Gesicht war verdeckt mit einem Schal oder einer Augenbinde, wie eine Maske. Da war diese Kapuze, diese Maske und seine Augen."
Geschickt kombiniert der Film hoch ästhetische, in nachtblauem Licht gehaltene Tanzbilder mit Schwarz-Weiß-Szenen aus der Realität. Theatralische Theaterposen, immer wieder eingestreute Nachrichtenmeldungen und ein mit Martinshorn und Blaulicht heranrasender Krankenwagen. Schöner Schein und grausame Realität. Der Drahtzieher des Attentats ist schnell gefunden: ein Solotänzer, dessen Freundin bei der Neubesetzung einer Rolle nicht berücksichtigt wurde. Er wird angeklagt und verurteilt, obwohl er die Tat bis heute bestreitet.
Die Theatertruppe spaltet sich in zwei Lager. Die Filin-Gegner sprechen von Gängelung, Willkür und diktatorischem Auftreten des Künstlerischen Leiters. Die Stimmung ist katastrophal - und ein Glücksfall für die Filmemacher. Die Bereitschaft, offen zu reden ist frappierend: "Es ist die Luft, die ich atme", sagt eine Tänzerin. "Ich arbeite am Bolschoi. Aber ich habe das Gefühl, es ist nicht das Bolschoi-Theater, das ich mir erträumt habe. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas hat sich verändert. Hoffen wir, dass es wie eine Krankheit ist, die vorübergeht."
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Menschliches Miteinander: Fehlanzeige, so scheint es. Oder abgedrängt auf Nebenschauplätze: Eine Solotänzerin, alleinerziehende Mutter, feiert den Geburtstag ihres Sohnes im Theater. Es geht nicht anders, sie hat Vorstellung. Das Geschenk für den Kleinen gibt’s in der Garderobe. Ein zärtlicher Augenblick in einem von Intrigen und Neid zerfressenen Kulturtempel.
Eine Steilvorlage für die Regisseure sind auch die mitunter martialischen politischen Statements, um Beispiel das von Russlands Ministerpräsident Medwedew: "Das Bolschoi ist unsere 'Secret Weapon', unsere Geheimwaffe, die wir auf verschiedene Länder richten. Auch auf Großbritannien und die USA. Weil es eine universale Sprache ist. Eine Sprache, die alle verstehen.
Die Sprache sowohl des Balletts als auch der Oper. Deswegen werden wir es zur Erreichung unserer Ziele unbedingt nutzen. Zweifeln Sie nicht daran!" Oder, wie es ein Mitarbeiter aus der Theaterleitung formuliert: "Das Bolschoi-Theater aber ist wie ein Ozeandampfer: der hält Kurs und fährt weiter und weiter, auch wenn alles auseinanderstrebt."
Nach Monaten im Krankenhaus kehrt Sergej Filin zurück; mit dunkler Sonnenbrille, das Gesicht von der Säureattacke gezeichnet. Die Kamera begleitet ihn auf dem Weg durch die Gänge, zu seinen Mitarbeitern.
Ich bin so froh, Euch alle zu sehen. Auch wenn es nur mit einem Auge ist.
Inzwischen hat am Bolschoi ein neuer Intendant das Sagen. Und wir ahnen: der wird Sergej Filin nicht halten wollen. Denn auch und gerade am Bolschoi gilt wohl: Das wahre Drama findet hinter der Bühne statt.
Dokumentation von Nick Read und Mark Franchetti
Filmstart: 21. Juli 2016
"Bolshoi Babylon" ist eine Koproduktion von Red Velvet Films mit BR, MDR, ARTE, HBO und BBC.