Mit ihm fand der Jazz neue Zeitmaße. Dabei wollte er ursprünglich Tierarzt werden. Dave Brubecks größter Hit steht im 5/4-Takt: "Take Five". Der Pianist, der als Sohn eines Viehzüchters zur Welt kam und zu einem der größten Stars des Cool Jazz wurde, wäre am 6. Dezember 100 Jahre alt geworden.
Bildquelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Joe Giblin
Es war im Jahr 1954. Ein Jazzpianist aus Kalifornien schaffte es auf das Titelblatt des "Time"-Magazins. Ja und? Eine Sensation! Denn nur ein einziger Jazzmusiker hatte das vor ihm geschafft. Und das war der wohl für alle Zeiten populärste aller Jazzer: der Trompeter Louis Armstrong, genannt "Satchmo", den im 20. Jahrhundert jedes Kind kannte. Am 8. November 1954 aber fand Satchmo einen Nachfolger: Die erste Seite von "Time" zierte das gezeichnete Konterfei eines relativ jungen Mannes mit markanter Brille und seriösem Blick. Rechts von ihm krümmten sich Finger um ein Altsaxophon. Hinter seinem Kopf zog sich schräg eine Klaviertastatur über die Seite, Achtelnoten in dekorativem Rot flogen hier und da in die Luft, ein Violinschlüssel schmiegte sich an die Schulter des Porträtierten. "Jazzman Dave Brubeck" stand unter dem Bild. Und dazu verhieß ein fetziger Satz, dass dessen Musik die Gelenke zum Ausrasten bringen.
Was für ein Erfolg! Ein Tastenmann mit Denkerstirn hatte den Jazz in neue Domänen bewegt. Ins College hatte es diese Musik durch ihn geschafft. Die intellektuelle amerikanische Mittelschicht begeisterte sich für dessen Blue Notes und die bevorzugt krummen Rhythmen, in denen er sie verpackte. "Jazz Goes to College" hieß die LP, die Brubecks Quartett wenige Monate vorher veröffentlicht hatte. Sie enthielt Aufnahmen, die bei einer Tournee durch verschiedene Universitäten und "Junior Colleges" entstanden waren. Brubecks Frau Iola hatte diese Tournee zusammengestellt, weil sie mit feinem Gespür geahnt hatte, dass sich dort ein neues Publikum für den Jazz erreichen ließe.
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Balcony Rock (Live)
Ist damit das Wichtigste in der langen Geschichte des Jazzmusikers Dave Brubeck schon erzählt? Beileibe nicht. Denn "Jazz Goes to College", dieses Album, das den Sprung aufs Titelblatt von "Time" beförderte, war nicht der größte kommerzielle Erfolg des Pianisten und seiner Band. Dieser Erfolg sollte sich erst im Jahr 1961 einstellen. Und zwar mit einem Musikstück, das nicht von Brubeck selbst stammte, sondern von seinem Saxophonisten Paul Desmond, einem Meister eleganter Linien. Das Stück war ein schneller Wurf, der zu einer der weltweit bekanntesten Jazznummern werden sollte. Brubeck hatte Paul Desmond und den Schlagzeuger Joe Morello in einer Proben-Pause dabei beobachtet, wie sie über einem 5/4-Takt improvisierten. Er forderte Desmond auf, doch ein Stück in dieser Taktart zu schreiben. Als der das nächste Mal mit zwei Melodien ankam, die sich nicht recht zu einer Einheit fügen wollten, schlug ihm Brubeck vor, die zweite seiner Melodien, eine sich nach oben schlängelnde Linie in es-Moll, zum ersten Thema des Stücks zu machen, und die erste, mit musikalischen Leuchtpunkten über einem Ces-Dur-Akkord beginnende Melodie zum zweiten. Damit war "Take Five" geboren, ein Welthit und Dauerbrenner des Jazz. Er machte den Musikern im Studio heftige Schwierigkeiten: Als Tortur beschrieben sie später ihre ersten Versuche im Studio, bei denen einer nach dem anderen den Beat verloren. Denn locker über einem Fünfer-Metrum zu swingen, war damals bei weitem keine Selbstverständlichkeit.
"Take Five" erschien bereits 1959 auf der Langspielplatte "Time Out", auf der das Dave-Brubeck-Quartett lauter Experimente mit ungewöhnlichen Metren machte. Aber das Album startete nicht gleich durch, bekam schlechte Kritiken. Erst als die Plattenfirma im August 1961 das Desmond-Stück als Single auf den Markt brachte, schoss der Erfolg durch die Decke. Die Single wurde zum Millionenseller, zur meistverkauften Jazz-Single überhaupt, und daraufhin zog auch der Verkauf der LP mächtig an: Sie wurde zum ersten Jazz-Album, das sich über eine Million mal verkaufte – noch vor Miles Davis' im selben Jahr veröffentlichtem Jahrhundert-Wurf "Kind of Blue", der dann aber die Brubeck-Platte im Laufe der Jahrzehnte überflügelte.
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Dave Brubeck - Take Five ( Original Video)
Spannende Geschichten ranken sich um "Take Five": Vor allem die über die Single ist bemerkenswert. Denn die im August 1961 veröffentlichte Single-Version wich von der Aufnahme ab, die sich auf der LP befand und die heute die meisten Musikfans kennen. Die LP-Version dauert knapp fünfeinhalb Minuten, die Single musste aber ins kompakte Dreiminuten-Format passen. Produzent Teo Macero entschied sich deshalb für einen anderen Studio-Take des Stücks. Das brachte ihm einen wütenden Anruf des Saxophonisten Paul Desmond ein, der fand, dass diese Aufnahme nie an die Öffentlichkeit hätte gelangen dürfen – da er darin sehr schwach gespielt habe. In der Tat erreichte Desmond in dieser Single-Version bei weitem nicht die fein schweifende Eleganz seines Solos aus der LP-Version. Aber viele, die damals das Stück im Radio hörten und sich dann schnell die Platte besorgten, störte das offenbar nicht. Das Stück tat auch so seine Wirkung: Es war etwas völlig Neues. Der entspannt-raffinierte Rhythmus, zwei berückende Melodien – und ein Sound von noch heute ungemein reizvoller Smartheit. Wie Samt klang Desmonds Saxophonton über dem markanten Rhythmus. Vielleicht nie zuvor waren in populärer Musik das Weiche und das Kantige eine so selbstverständliche Symbiose eingegangen.
Das Album "Time Out" wies neben den krummen Metren (5/4, 9/8, 12/8) noch eine andere Besonderheit auf: Es gab darin nur Eigenkompositionen der Bandmitglieder. Die Plattenfirma hatte zunächst Zweifel angemeldet. Denn es galt als ausgemacht, dass ein Verkaufserfolg nur mit Standards erzielt werden konnte, also bereits bekannten Stücken aus dem weit verbreiteten Repertoire berühmter Musical-Songs. Doch Brubeck hatte sich durchgesetzt – und Recht behalten. Nur "Take Five" stammte nicht von ihm selbst, die anderen sechs Stücke des Albums hatte Brubeck komponiert. Darunter befanden sich mindestens zwei Jazznummern mit außergewöhnlicher Durchschlagskraft: "Blue Rondo à la Turk" über einem 9/8-Takt, der in 2 plus 2 plus 2 plus 3 Achtel aufgeteilt war – wie es Brubeck bei einer türkischen Straßenmusik-Kapelle erlebt hatte – und "Three To Get Ready (Four To Go)", das raffiniert zwischen Dreier- und Vierertakten pendelt.
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Blue Rondo à la Turk (Previously Unreleased)
Diese Erfolge waren nicht vorprogrammiert, sondern beharrlich erarbeitet. Brubeck, am 6. Dezember 1920 geboren in Concord, Kalifornien, wuchs auf einer Farm auf. Seine Mutter war studierte Pianistin und er begeisterte sich früh für Musik, lernte Klavier und Cello. Dennoch fing Brubeck nach dem Schulabschluss zunächst ein Tiermedizin-Studium an. Das beendete er aber bereits 1941, um sich der Musik zuzuwenden – glaubwürdigen Schilderungen zufolge nicht zuletzt deswegen, weil er die Gespräche der Musikstudenten viel anregender fand als diejenigen aus seinem zuerst gewählten Fach. 1943, während des Zweiten Weltkriegs, wurde er zur Army eingezogen, was ihn nach Europa brachte. Er war 1945 in Nürnberg und Regensburg stationiert, gab im Nürnberger Opernhaus das erste Konzert nach Kriegsende. Zurück in den USA, studierte er am Mills College in Oakland, Kalifornien, bei dem französischen Komponisten Darius Milhaud, der dort lehrte. Diese Zeit – in Ergänzung zu Lehrstunden, die Brubeck Jahre vorher bei Arnold Schönberg besucht hatte – förderte sein Interesse an Kompositionstechniken wie Kontrapunkt und Fuge. Er und Mitstudenten wie der Saxophonist David Van Kriedt und der Klarinettist William Overton Smith (genannt Bill Smith) gründeten ein Oktett, das in Eigenkompositionen die Anregungen Milhauds umsetzten. Fünf Blasinstrumente, Klavier, Bass und Schlagzeug: So war dieses Oktett besetzt. Die Musik des Ensembles klingt aus heutiger Warte auf etwas ungelenke Art ambitioniert. Aber sie war ein spannender Versuch, Jazzklänge in ungewohnte kompositorische Sphären zu rücken. Die Reaktionen waren geteilt. Ausgerechnet Dave Brubecks Vater Pete sagte einen der harschesten Sätze über die Musik des Oktetts. Der Lokalpresse gegenüber bellte er nach einem Konzert 1949: "Das war der schlimmste Haufen Lärm, der mir je untergekommen ist."
Das und vieles andere an sehr Aufschlussreichem und Lesenswertem schildert der Musikschriftsteller Philip Clark in seiner dieses Jahr erschienenen Brubeck-Biographie mit dem raffiniert schillernden Titel "A Life in Time". Fest steht in der Sache Brubeck Junior versus Brubeck Senior: Wenn die nächstältere Generation so entschieden Ablehnung bekundet, hat man entweder besonders schlampig gearbeitet – oder besonders fortschrittlich. Rückblickend ist das im Falle Dave Brubecks keine Frage mehr. Brubeck selbst ließ sich von schlechter oder mangelnder Resonanz nicht dauerhaft entmutigen, aber eine Zeitlang spielte er nach den mäßigen Erfolgen des Oktetts vor allem Evergreens – und das tat er auch noch 1954 bei seiner "Jazz Goes To College"-Tournee. Auch in dieser Domäne allerdings zeigten sich seine Qualitäten: Eine der stilvollsten Aufnahmen des Brubeck-Quartetts ist die instrumentale Interpretation von Leonard Bernsteins Song "Somewhere" aus der "West Side Story": Vollendet führen Desmonds Altsax und Brubecks Klavier dessen Melodie durch geschmackvolle kontrapunktische Passagen.
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Somewhere
Das berühmte Gespann mit Paul Desmond und Dave Brubeck an der Spitze eines Welterfolgs-Quartetts hätte es um ein Haar nicht gegeben. Desmond, damals schwer spielsüchtig, hatte den Pianisten Ende der 1940er-Jahre in heftige Nöte gebracht. Brubeck hatte ein gutbezahltes Engagement aufgegeben, um in einer Band Desmonds mitzuspielen. Doch der Saxophonist ließ dieses Projekt dann unvermittelt fallen, um in der Spielerstadt Reno ein anderes Engagement einzugehen – mit einem anderen Pianisten. So stand Brubeck ohne Einkommen da und musste zeitweilig mit seiner jungen Familie in eine Wellblechbehausung ziehen. Seiner Frau Iola sagte er damals stets, wenn es an der Tür klingelte: "Wenn es Paul ist, lass ihn auf keinen Fall herein!" Doch sie öffnete dem charismatischen Saxophonisten eines Tages dann doch die Tür – und damit konnte eines der bekanntesten Quartette der Jazzgeschichte entstehen.
Die Geschichte dieses Quartetts ist auch in anderer Hinsicht interessant: Diverse Male wurde Brubeck von rassistischen Veranstaltern aufgefordert, seinen Bassisten auszuwechseln. Denn der, der hervorragende Musiker Eugene Wright, der die musikalische Sicherheit mitbrachte, um alle metrisch-rhythmischen Experimente Brubecks gelassen mitzugehen, war Afro-Amerikaner. Dave Brubeck aber sagte Konzerte in Clubs, die statt Wright einen weißen Bassisten wollten, kurzerhand ab – und das tat er auch bei Auftritten im Fernsehen, wenn er feststellte, dass Produzenten Wright nicht ins Bild rücken wollten. Krumme Rhythmen, gerader Gang: ein bedeutendes Kennzeichen eines ungemein populären Musikers und Bandleaders.
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Summertime
Brubeck war über sechs Jahrzehnte lang als Musiker aktiv, er spielte bis 2006 weltweit in Konzerten mit Hingabe und ungebrochener Überzeugung seine nicht-quadratischen Rhythmen und sperrigen Harmonien. "Er swingt nicht", "Er klingt, als springe er mit den Füßen auf dem Klavier herum": Das schrieben übellaunige Kritiker über seine Musik. Denn als Pianist weigerte sich Brubeck, einem virtuositätsversessenen Publikum Zucker zu geben: Er spielte in seinen Soli gern gegenläufige Linien, bei denen man das Gefühl hatte, dem Pianisten beim Denken zuhören zu können. Außerdem vermied er allzu selbstverständliches Perlen und suchte stattdessen Töne, die sich reizvoll gegeneinander spreizten. Sein Spiel: Das war die hohe Schule der Nicht-Geläufigkeit. Die pflegte er bis ins hohe Alter. Mit 91 Jahren nahm er eine Reihe von "Lullabys", also Schlaflieder, für seine Enkelkinder auf. Posthum sind diese Aufnahmen jetzt, kurz vor dem 100. Geburtstag Brubecks, auf einer CD erschienen – die ganz offenbar nicht nur die Fans, sondern auch Musikkritiker begeistert.
Auch privat war Brubeck ein Muster an Kontinuität. 70 Jahre lang war er mit seiner Frau Iola verheiratet, die ihn auch in späten Jahren stets zu Konzerten begleitete. Das Paar hatte sechs Kinder, von denen vier professionelle Musiker wurden, darunter der Pianist Darius Brubeck, benannt nach dem verehrten Lehrer des Vaters, Darius Milhaud.
Auf die Frage, was sich in den Jahrzehnten seiner Karriere für ihn als Musiker geändert habe, sagte er im Jahr 2000 in einem Münchner Hotelzimmer, mit seiner Frau Iola als aufmerksamer Zuhörerin: "Als ich anfing, wollte ich polytonale und polyrhythmische Musik spielen und legte Wert auf Melodik und Kontrapunkt. Wenn ich jetzt spiele, will ich dasselbe machen. Nur besser, wenn's geht." Auch fast fünf Jahrzehnte nach seinem Erscheinen auf dem Titelblatt eines der berühmtesten Nachrichten-Magazine der Welt war der hochgewachsene Mann mit den beeindruckenden dunklen Balken von Augenbrauen ein Meister des Understatements. Oder auch: ein echter Fall von Bescheidenheit.
Kommentare (1)
Samstag, 05.Dezember, 17:22 Uhr
Bea.e Schwär.ler
Der MENSCH DAVE BRUBECK
Sehr, sehr beeindruckend, dieser Ja..musiker,
Und da meine ich nich. nur, was und wie er spiel.e.
Die Hingabe und seine Geradhei., die meine ich auch.
Dank dem Por.rai.is.en. (Aber mir fehl.en dennoch die Bilder von Mi..woch-Mi..ag.)