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Aus dem Reich der Toten Max Reger und "sein" Requiem

Es ist durchaus "sein" Requiem. Nicht, dass Reger mehr oder minder bewusst seinen eigenen Grabgesang geschrieben hätte; vielmehr nimmt dieser kaum viertelstündige "Gesang" die Spannungen der Reger’schen Existenz auf und verdichtet sie musikalisch, so dass sein Schöpfer am Ende selbst überrascht war, was daraus geworden ist: "[…] mit das Schönste, was ich je geschrieben habe". Und das geschah gegen seine ursprüngliche Vision von einem "Requiem im grossen Styl".

Gedenktafel am Regerhaus in der Jenaer Beethovenstraße | Bildquelle: Max-Reger-Institut

Bildquelle: Max-Reger-Institut

Konzert-Tipp

Auch der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks würdigen am 5., 6. und 7. Mai unter der Leitung von Karl-Heinz Steffens Max Regers 100. Todestag. Zur Aufführung kommt dessen Requiem für Bariton, Chor und Orchester (nach Hebbel), op. 144b - eingebettet in Werke von Johannes Brahms. BR-KLASSIK ist beim Konzert am 6. Mai live dabei.

Diese Vision resultierte nämlich aus einer Sucht, die Reger - neben dem Alkohol - lebenslang verfolgte: dem Hang, sich im Monumentalen bestätigen zu müssen, der auch in seiner patriotischen Verirrung zu Beginn des "grossen Kriegs" 1914 Niederschlag fand. Das "Hebbel-Requiem" ist aber im "freien Jenaischen Stil" während der letzten ruhigen Schaffensphase des 42-Jährigen im Sommer 1915 entstanden und geht auf eine frühere Begegnung mit Hebbels Lyrik zurück. Reger erwog bereits 1910 eine Komposition des Hebbel’schen Gedichtes Requiem für die Besetzung Alt-Solo, Männerchor und Orchester, zog diesem jedoch plötzlich im Mai 1911 ein anderes, mit mehr Pathos aufgeladenes Hebbel-Poem vor: Weihe der Nacht, sein späteres Opus 119. Im Frühjahr 1912 kam er auf Hebbels "wunderbares Gedicht >Requiem<" zurück, als ihn sein Schweizer Verehrer, der Komponist Hermann Suter, um ein Werk für seine Basler Liedertafel bat. Reger setzte den Text als Chorsatz um und fügte ihn 1912 seinen bereits 1904 und 1909 entstandenen Gesängen für Männerchor als umfangreicheres Schlussstück (op. 83/10) hinzu - ohne die paradoxale Dimension des Gedichts gänzlich ausgelotet zu haben.

Hintergrund

Reger (geboren am 19. März 1873 in Brand/Oberpfalz, verstorben am 11. Mai 1916 in Leipzig) hat sein Requiem op. 144b "Dem Andenken der im grossen Kriege gefallenen deutschen Helden" gewidmet. Beendet hat er die Partitur hierzu am 25. August 1915 in Jena; erstmals aufgeführt wurde das Requiem dann am 16. Juli 1916 posthum in einer Reger-Gedächtnisfeier des Bachvereins Heidelberg unter der Leitung von Philipp Wolfrum.

Während seines Meraner Kuraufenthalts im Frühjahr 1914 wollte Reger in vollem Überschwang noch "ein Tedeum, eine Messe und ein Requiem" schreiben und begann instinktiv zuerst die Requiem-Idee zu realisieren: Es sollte ein Requiem auf einen deutschen Text werden, wovon ihm sein Freund Karl Straube, Leipziger Thomaskantor und Regers kritischer Mentor, der Brahms-Konkurrenz wegen kategorisch abriet. Statt dessen wollte er ihn zum "katholischen lateinischen Text" bewegen. Im Herbst 1914, nunmehr nach Kriegsbeginn, schuf Reger den Introitus (Requiem aeternam) und das Kyrie und arbeitete bereits Ende November am Dies irae. Hier fügte sich die Entstehung des so genannten Hebbel-Requiemsop.144b in gewisser Weise an die Komposition des Lateinischen Requiems (WoO V/9) an, das der Komponist als Opus 145 "im grossen Stil für Soli, Chor, Orchester und Orgel" plante. Während des Kompositionsprozesses am Lateinischen Requiem, der zeitlich parallel mit der Kriegsentwicklung verlief, geriet ihm das Werk im Umgang mit dem lateinisch-liturgischen Text immer abstrakter, aber auch kühner.

Skizze zum Hebbel-Requiem | Bildquelle: Simrock/Archiv des BR Skizze zum Hebbel-Requiem mit dem handschriftlichen Vermerk vom September 1915 | Bildquelle: Simrock/Archiv des BR Regers letzter Versuch, das Monumentale hinüberzuretten, scheiterte dann offensichtlich im Verlauf der Komposition des Dies irae. Der bürgerlich-protestantische Thomaskantor Straube bemängelte Regers Umgang mit der lateinisch-liturgischen Vorlage und hielt das bis dahin Entstandene für zu wirr. Reger glaubte ihm und folgte seinen Empfehlungen. So brach er, nach einem dramatischen Treffen mit Straube im Dezember 1914, sein großes Projekt Requiem ab - was eine bedrohliche Existenzkrise in ihm auslöste, von deren Auswirkungen Elsa Regers verzweifelte briefliche Äußerungen aus den Dezembertagen berichten; sie befürchtete den Zusammenbruch ihres Mannes und einen Rückfall in den Alkohol nach eben erst erfolgreichem Entzug.

Nach heutiger Erkenntnis jedoch zeigte sich Reger gerade in diesen schließlich verworfenen Sätzen des Lateinischen Requiemsenorm fortschrittlich. Der noch vollendete Introitus(Requiem aeternam) mit Kyrie wurde erst viele Jahre nach Regers Tod 1938 in Berlin uraufgeführt. Das Dies irae jedoch, das gewissermaßen Zukunftsmusik war, blieb Fragment, erschien 1975 in der Gesamtausgabe und gelangte erst 1979 in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi zur Uraufführung.

Nachdem Reger seine Position als Kapellmeister in Meiningen aufgegeben hatte und nach Jena umgezogen war, bot sich ihm endlich die Aussicht, seine Getriebenheit durch ruhiges Arbeiten zu ersetzen. In diesen Jahren entstanden neben vielerlei Bearbeitungen die gewichtigen Spätwerke. Im Zentrum seines Schaffens stand in diesen Sommermonaten 1915 - so Reger wörtlich - das "verunglückte Requiem", das ihm, als habe er eine Mission, keine Ruhe ließ. Im Juli näherte er sich mit der Vertonung des berühmten Eichendorff-Gedichts Der Einsiedler ("Komm, Trost der Welt") für Bariton, fünfstimmigen Chor und Orchester wieder der "Requiem"-Sphäre an, bezeichnenderweise unter Einbezug des Chorals O Welt, ich muss dich lassen. Unmittelbar im Anschluss fand er sich im Hebbel’schen Gedicht Requiemwieder, ersetzte nun konsequent mit einem "Deutschen Requiem" das Lateinische Requiem, wobei er dafür sogar das schon eingerichtete Notenpapier benutzte, und fasste beide Werke – den Einsiedler und das Hebbel-Requiem - im Opus 144 zusammen. Sein "Deutsches Requiem" ist jedoch von ganz anderer Art als der einst begonnene Plan: Es feiert nicht mehr tote Helden, sondern sendet Zeichen aus der Totenwelt - später sollte es für die Zwecke des Nazi-Reichs missbraucht werden.

Reger bezeichnete es als "ein feines intimes Stück", das trotz großer Besetzung einen eigensinnig introvertierten Klang hervorbringt. Noch in der Schlussphase der Komposition seines neuen Requiemsforderte er von Straube sein Manuskript des Lateinischen Requiems, das er ihm überlassen hatte, dringend zurück. Das heißt wohl auch, dass Reger sich der Bedeutung dieser Musik und ihrer Neuheit bewusst war und sie im intimen Kontext des Hebbel-Requiemsfortsetzen wollte - was die Forschung auch nachgewiesen hat.

Die beabsichtigte pompös-nationale Musik führte er in einen sublimen Abgesang über und entwickelte darin im Grunde eine Angstgebärde. Diesem Gefühl gab Reger musikalisch in einer ungewöhnlichen, das Spätwerk immer deutlicher durchziehenden "Destabilisierung" der kompositorischen Faktur Ausdruck (Susanne Popp). Traditionelle Formteile sind nur noch ansatzweise erkennbar, gleichsam im Auf-, Ab- oder Anklingen - als würden sie als etwas längst Vergangenes nur erinnernd zitiert oder gar, um Roman Brotbeck zu folgen, "verfremdet". Durch harmonische Fluktuation, enorme Crescendi zu nur kurzen Fortissimo-Ausbrüchen, radikale Decrescendi, alles "stringendo" hin auf das Verschwinden zielend, erhält der Klang kaum mehr die Chance, wirklich zu wirken. Um mit Rilke zu sprechen: Reger bewegte sich auf einen "Doppelbereich" zu, wo die Stimmen "ewig und mild" werden (Sonette an Orpheus I, IX).

Hebbel-Requiem op. 144b, S. 1 der autographen Stichvorlage des Klavierauszugs | Bildquelle: Simrock/Archiv des BR Max Reger: Hebbel-Requiem op. 144b, S. 1 der autographen Stichvorlage des Klavierauszugs | Bildquelle: Simrock/Archiv des BR Die musikalische Destabilisierung beförderte Hebbels poetischer Text, dessen Struktur Reger nur zu folgen hatte: die Anrufungen "Seele, vergiss sie nicht,/ Seele, vergiss nicht die Toten!" je in der Solostimme, zwei Textpassagen chorisch beginnend mit "Sieh, sie umschweben dich". Die erste Phase evoziert "die heiligen Gluten" der Liebe; die zweite zeichnet als Schreckensvision die Ausgießung der toten Seele ins ewige Chaos: "unendliche Wüste", "Sturm", "Kampf […] um erneuertes Sein". Sie erinnert in den aufschreiartigen Ausbrüchen an das Material des Dies irae aus dem Lateinischen Requiem. Es bleibt die Angst vor dem Nichts, was musikalisch zu vollziehen der Gedichttext nahelegt, denn er fällt unter den Hebbel-Gedichten dieser Zeit als ungewöhnlich reimlos auf, frei in den Rhythmen und mit Strophen ungleicher Versanzahl, sperrig in der Einbeziehung scheinbar gedichtfremder Wortkonstellationen, so dass man meint, sich in Prosa zu befinden. Und das kommt Regers Formung des Destabilen, seiner Auflösung metrischer Formen - ganz anders als bei Eichendorffs Einsiedler - entgegen: Der Begriff "musikalische Prosa" drängt sich auf, der nach Schönberg strukturell ein Merkmal modernen Musikdenkens ist analog zur Auflösung der Tonalität - als gelte es, Brechts Verse von 1939 antizipierend einzulösen: "In meinem Lied ein Reim / käme mir fast vor wie Übermut" (Schlechte Zeit für Lyrik).

Entscheidende Einblicke in das Hebbel-Requiem gibt das Autograph der Partitur, die in subtilster Form Regers Arbeitsweise verdeutlicht. Bestechend ist das fast manisch scharfe Unterscheiden von Wie und Was durch die verschiedenen Tintenfarben Rot und Schwarz: Schwarz für die Musik, Rot für sämtliche Anweisungen wie Dynamik, Agogik, Akzentuierung, Phrasierung, wodurch ein dichtes rotes Netz über die schwarze Substanz gelegt ist, das nahezu jede Note bezeichnet, fast gar bis zum Ende der Interpretierbarkeit, wenn man nur die aberwitzigen dynamischen Extreme auf kleinstem Raum bedenkt. Gelingt letztes Verstehen dieser Musik also ausgerechnet durch das Auge?

Man erkennt daran Regers angstvolle Rastlosigkeit, die sich in der Überbezeichnung seiner kompositorischen Botschaften ebenso ausdrückt wie in seinen bis in die letzten Lebenswochen manischen Konzerttourneen durch die kriegsgeschüttelten Länder, sozusagen auf Missionsreise in eigener Sache. Es herrscht die große Angst vor dem "Danach", die sich spiegelt, weil Reger sich im "Dazwischen" fühlt.

Immer wieder aber baute Reger Momente des letzten Halts in die destabilisierte Struktur seiner Musik ein. Hier bot ihm der protestantische Choral das ideale Zeichen- und Zitatmaterial - so auch im Hebbel-Requiem, wenn er seinen Herzens-Choral Wenn ich einmal soll scheiden (die neunte Strophe aus Oh Haupt voll Blut und Wunden) in der Schlussphase des Werkes an jener Stelle einbringt, wo sich Solo und Chor ein einziges Mal treffen. Fast schon jenseitig klingt es, wenn der Chor in eigentlich erlösendem Dur und "dolcissimo" die alte Choralmelodie mit den Worten "Wenn ich einmal soll scheiden / So scheide nicht von mir" nun aber auf Hebbels Text "Vergiss sie nicht, die Toten" intoniert. Der zitierte Choral versiegt dann gänzlich an jener Stelle des Originaltextes, wo es heißt: "Wenn mir am allerbängsten / (Wird um das Herze sein)" - wenige Takte vor Schluss des Werkes bricht das Choralzitat auf eben diesem Wort "allerbängsten" ab. Kaum wagt man mehr, textlich ans Ende des derart eingesetzten Chorals zu denken: "So reiß mich aus den Ängsten / Kraft deiner Angst und Pein." Scheint Reger nicht einmal in Christus mehr Trost zu finden? Ein tiefsinniges Symbol für das Phänomen Reger, seiner Existenz im "Dazwischen" und nicht nur "zwischen den Zeiten".

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