Als "Mount Everest" hat der Tenor Jonas Kaufmann die Rolle des "Otello" in der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi einmal bezeichnet. Nun zeigt er seine Interpretation der komplexen Figur in einer neu erschienenen Studioaufnahme mit dem Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Antonio Pappano.
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BR-KLASSIK: Sie haben die Rolle des Otello einmal als “Mount Everest" bezeichnet. 2017 haben Sie ihn in London das erste Mal "bestiegen". Ist der schwierige Aufstieg seitdem leichter geworden?
Jonas Kaufmann: Sagen wir so: Mittlerweile erklimme ich diesen Berg ohne Sauerstoffgerät, während bei der Erstbesteigung noch jede Menge Euqipment nötig war. Aber die Rolle wird nie leicht. Verdi hat diesen Shakespeare-Charakter so unglaublich direkt und schnörkellos umgesetzt. Wir sehen den Menschen, wie er wirklich ist, mit all seinen Schwächen und seiner Boshaftigkeit. Das ist erschreckend, weil es so unglaublich realistisch wirkt.
BR-KLASSIK: Welche Gefühle haben Sie Otello gegenüber?
Rollendebüt am Royal Opera House in London: Jonas Kaufmann als Otello, 2017. | Bildquelle: Catherine Ashmore Jonas Kaufmann: Ich höre immer wieder, dass man keine Sympathie für diesen Menschen empfinden könne, weil er ja ein böser Mörder ist. Ich glaube, dass man als Interpret versuchen sollte zu erklären, wo das herkommt. Das heißt nicht, dass ich gutheiße, was Otello tut, aber ich versuche mir zu überlegen, warum jemand glaubt, er müsse seine Frau ermorden.
BR-KLASSIK: Und was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Jonas Kaufmann: Für mich ist die Lösung relativ klar: Einerseits ist Otello, obwohl er ein großer Kriegsheld ist, wahnsinnig unsicher aufgrund seiner Hautfarbe. Er hat sich in der Gesellschaft nur über seinen Erfolg definiert und nach oben gearbeitet. Dadurch wiederum hat er seine Frau kennengelernt. Und letztlich, so glaubt er, warten alle auf den Moment, wo sie ihn fallen lässt. Dieser Gesichtsverlust wäre für ihn das Ende, weil dann eben diese Schleuse losbricht für alle Zweifler und Kritiker, die ihm nur Böses wollen – zumindest sieht er das so.
Otello kann sich nicht selbstverständlich als Teil der Gesellschaft sehen.
BR-KLASSIK: Und andererseits?
Andererseits spielt seine Kultur eine große Rolle. Sie erlaubt ihm ja, dass er im Ehrenmord töten kann, ohne bestraft zu werden. Als er am Ende merkt, welchen Fehler er begangen hat, kann man wirklich einen Einblick in die zerbrechliche Seele von Otello erhaschen, wenn eben nicht dieses testosterongesteuerte, dominante Kriegertum alles abdeckt. Und Otello ist ja auch unglaublich unsicher und ringt um Worte, um Desdemona seine Liebe zu gestehen, weil er einfach auf diesem “Schlachtfeld der Liebe” wesentlich unerfahrener ist als auf jedem anderen Schauplatz der Welt. Wenn man das alles berücksichtigt, versteht man schon, warum Verdi Otello diesen unglaublich rührenden Schluss gegönnt hat und nicht mit dem Mord an Desdemona die Oper einfach beendet hat.
Die neue Studio-Gesamtaufnahme der Verdi-Oper "Otello" erschien am 12. Juni 2020 bei Sony Classical. In den Hauptrollen: Jonas Kaufmann (Otello, Tenor), Federica Lombardi (Desdemona, Sopran), Carlos Alvarez (Jago, Bariton), Virginie Verrez (Emilia, Mezzosopran), Liparit Avetisyan (Cassio, Tenor) u.a. Sie werden begleitet vom Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Die Leitung hat Antonio Pappano.
BR-KLASSIK: Wir haben in den letzten Wochen leider mit Erschrecken feststellen müssen, dass es nach wie vor notwendig ist, Rassismusdebatten zu führen. Inwiefern ist es denn aus Ihrer Sich von Belang, welche Hautfarbe Otello hat?
In der neuen Studio-Gesamtaufnahme von Verdis "Otello" ist Jonas Kaufmann in der Hauptrolle zu hören. | Bildquelle: © Gregor Hohenberg - Sony Classical Jonas Kaufmann: Ich glaube, Otellos Hautfarbe ist schon wichtig für die Geschichte. Dadurch versteht man, warum er so unsicher ist und warum es für ihn so ungeheuer nötig ist, das Gesicht zu wahren. Denn er trägt im Gegensatz zu den anderen Protagonisten dieses "Manko" mit sich. Shakespeare lässt ja auch seinen Widersacher Jago die übelsten rassistischen Beschimpfungen ihm gegenüber äußern. Otello ist ein Outcast. Ob das an der Hautfarbe liegt, an der Religion oder daran, dass er ein Fremder ist und von woanders kommt, spielt eigentlich keine Rolle. Aber dass er sich nicht selbstverständlich als Teil der Gesellschaft sehen kann, das ist klar und wichtig. Das führt letztlich zur Zuspitzung der Ereignisse.
Im Studio kann ich Dinge aus mir herauskitzeln, die ich mich bei einer Aufführung nicht traue.
BR-KLASSIK: Sie haben "Otello" im Studio auf CD aufgenommen. Fehlt Ihnen da nicht das Publikum und die Spannung eines Opernabends?
Jonas Kaufmann: Eine Studioaufnahme ist superschwierig, keine Frage. Es ist ja nicht so, dass wir am ersten Tag morgens die Noten aufschlagen und sagen: So, jetzt fangen wir mal beim Sturm an und dann gegen wir langsam chronologisch durch. Nicht alle Sänger sind immer verfügbar, der Chor ist nur für bestimmte Tage eingeteilt, und es gibt auch im Orchester unterschiedliche Besetzungen, zum Beispiel werden für bestimmte Szenen zusätzliche Trompeten dazubestellt. An diesem Tag müssen dann alle Trompeten-Stellen aufgenommen werden. Dementsprechend springt man wild in den Akten hin und her, hat mitunter an einem Tag drei Szenen, die nichts miteinander zu tun haben, sodass man schon eine gewisse Erfahrung mitbringen muss. Auf der anderen Seite kann ich im Studio Dinge auch mal ausprobieren. Ich habe die Möglichkeit, jederzeit abzubrechen und wieder weiterzumachen. So kann man Dinge aus sich herauskitzeln, die man sich vielleicht in einer Liveaufführung vor Publikum nicht trauen würde. Aber natürlich vermisse ich das Publikum, und es ist wahnsinnig schwer, eine Aufführung für sich allein zu singen. Ich habe zwar das Orchester da sitzen, aber es ist nicht das Gleiche.
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Die Premiere der Verdi-Oper "Otello" am 21. Juni im Royal Opera House in London ... | Bildquelle: Catherine Ashmore
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... wurde vor allem wegen des Auftritts von Startenor Jonas Kaufmann mit Spannung erwartet. | Bildquelle: Catherine Ashmore
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Kaufmann gab sein Rollendebüt als Otello und sang an der Seite von ... | Bildquelle: Catherine Ashmore
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... In Sung Sim als Lodovico, Marco Vragtogna als Iago ... | Bildquelle: Catherine Ashmore
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... Kai Rüütel als Emilia und Maria Agresta als Desdemona. | Bildquelle: Catherine Ashmore
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Wie immer bei Otello blieb auch in London die Diskussion darüber nicht aus, ob "der Mohr von Venedig" von einem weißen Interpreten dargestellt werden soll. | Bildquelle: Catherine Ashmore
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Für den britischen Regisseur Keith Warner, der für die erste Neuinszenierung der Oper am Royal Opera House seit 30 Jahren verantwortlich zeichnet, ist die Frage nicht relevant. | Bildquelle: Catherine Ashmore
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Er versuchte, den Konflikt damit zu lösen, dass das Bühnenbild überwiegend in schwarz-weiß gehalten war. Es gehe in dem Werk nicht nur um Hautfarbe, "sondern um Licht und Dunkel", sagte Warner dem "Guardian". | Bildquelle: Catherine Ashmore
BR-KLASSIK: Künstler, die ihr Publikum vermissen – auch ein großes Thema in den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie. Wie erleben Sie diese Zeit?
Jonas Kaufmann: Die ersten paar Wochen der Krise nennen wir Musiker ja "Berufsverbot". Immerhin bin ich in der glücklichen Lage, dass ich ein Haus habe, einen Flügel, keine Nachbarn, die sich beschweren, also kann ich zumindest üben und trainieren. Aber was nützt das, wenn ich die Kunst dann nicht den anderen zeigen kann? Die ersten Wochen hab ich sehr genossen, muss ich sagen. Es war letztlich wie eine Art "Zwangsurlaub". Ich glaube, dass ich niemals so viel am Stück Zuhause war – und das war sehr schön. Aber natürlich kommt dann der Punkt, wo man spürt: Ich vermisse das Auftreten, das Publikum, die Herausforderung, dass die Stimme einfach laufen muss. Wenn man das nicht hat, dann stellt sich doch ein gewisser Schlendrian ein.
Ich habe Angst um die Kultur, denn da ist schon viel weggebrochen.
BR-KLASSIK: Wie schätzen Sie allgemein die Folgen der Pandemie für Kunst und Kultur ein?
Jonas Kaufmann: Wenn es sich so weiter entwickelt, werden wir in der nächsten Saison noch deutliche Einschränkungen erleben. Ich habe schon Angst um die Kultur insgesamt, denn da ist schon viel weggebrochen – und es wird noch viel passieren. Viele junge Leute, die ein Instrument professionell erlernen wollen, werden sich vielleicht für andere Berufe entscheiden, weil sie merken, dass sich die Gesellschaft in der Not doch nicht so sehr für die Kultur interessiert. Und dann werden wir demnächst Nachwuchsprobleme haben, was sehr schade wär. Man wundert sich schon, wenn man sieht, dass ein Linienflieger vollgepackt mit Menschen, die Masken tragen, starten darf, aber man in der Oper trotz Maske zweieinhalb Meter Abstand zum Nachbarn haben muss. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.
Sendung: "Allegro" am 16. Juni 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (3)
Mittwoch, 17.Juni, 22:13 Uhr
Schwärzler Beate
Wenn doch Politiker einen weiteren Horizont hätten
1 Milliarde für die Kulturschaffenden, 9 Milliarden für die Lufthansa,
Fußball durfte zuerst wieder,
Kultur im Fernsehen fast nur auf 3SAT und im Bayerischen Fern-
sehen, wenn überhaupt, dann ganz spät abends,
Fußball am frühen Abend
Um die freien Künstler sorgte sich zunächst niemand Um die armen Autos alle
Wenn doch die Damen und Herren Politiker mehr (Herzens-)Bildung hätten ! Echte !
Und nicht so viel Angst, von kritikfähigen (auch durch Kultur) Menschen nicht gewählt zu werden...
Dank an die Kunst, Dank an die Künstler, - die erst machen das Leben lebenswert!
Dienstag, 16.Juni, 22:09 Uhr
Wilfried Schneider
Ich habe Angst um die Kultur...
Das Problem in Deutschland ist, dass Kultur in diesem Lande eine untergeordnete Rolle spielt und auch von Seiten der Politik bewusst mit dem Stigma des Elitären behaftet wird. Große Teile der Bevölkerung finden nichts dabei, wenn Theater, Opern- und Konzerthäuser geschlossen sind, aber wehe, es gibt keinen Fußball! Dann kocht die Volksseele. Dass durch die Unmöglichkeit, zu Proben und Aufzutreten, Ensembles auseinanderfallen werden, es vielleicht Jahre braucht, bis wieder Anschluss an das Niveau vor Corona gefunden werden kann, geschenkt. Die Kulturstätten werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Letzten sein, die wieder öffnen dürfen. So mancher sieht in der Kulturszene nur sinnlose Steuergeldverschwendung.
Schauspieler, Sänger, Dirigenten als schmückendes Beiwerk - gerne! Aber sonst...? Die nahe Zukunft: volle Flugzeuge, volle Stadien, leere Theater, Konzert- und Opernhäuser. Wer wird auf der Strecke bleiben? Welches Ensemble wird überleben?
Dienstag, 16.Juni, 21:46 Uhr
Reina Statz
zweierlei Maß ....
Herr Kaufmann spricht mir aus dem Herzen.
Wochenlang wurde die Kaufprämie für Autos diskutiert, die Lage gerade von freischaffenden Künstlern wurde fast nie erwähnt. Von den ewigen Diskussionen über die ach so armen Fußballer ganz zu schweigen.
Kultur nur für gute Zeiten, in schlechten Zeiten können die Kulturschaffenden sehen, wo sie bleiben? GZSZ nur wenn es nicht so aufwändig ist?
Zumindest sehr, sehr enttäuschend für unser Land.