In Zeiten, in denen Politiker wieder von "Säuberungen" sprechen und in denen die freie Existenz vieler Menschen nicht nur in und um Europa bedroht ist, sollte man sich ein Beispiel am Jazz nehmen. Ein Sound der Koexistenz, des Miteinanders – gesellschaftlich heute womöglich relevanter denn je. Warum? Ein Kommentar von Jazzredakteur Roland Spiegel.
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Roland Spiegel im Gespräch mit Annika Täuschel
Non-Toleranz in schärfster Form: Man begegnet ihr an vielen Orten seit einigen Jahren. Medienkontrolle in mehreren Ländern um und in Europa, Jagd auf Andersdenkende, ideologische Gleichschaltung. Ein mit Rassismus und Antisemitismus verbundener Begriff wie "völkisch" wird ausgerechnet in Deutschland wieder von politischen Figuren hochgehalten. Autoritäre Politiker scheinen Aufwind zu spüren. Selbst ein amerikanischer Präsident hetzt pauschal gegen Latinos und Muslime. Die Welt ist konfrontiert mit beklemmender Menschenverachtung, die viele noch vor zehn Jahren so nicht für möglich gehalten hätten. Hinzu kommt die Bedrohung durch Terror. Eine Situation, in der Menschen zusammenrücken müssten, um sich und die ebenfalls bedrohten Demokratien besser zu schützen.
Ob man es glaubt oder nicht: Gerade in solchen Zeiten kann man viel von Musik lernen; denn in ihr wird das feinfühlige gemeinsame Agieren so gut geschult wie in wenigen anderen Künsten. Erst recht lernen kann man von einer bestimmten Musik: dem Jazz. Jazz? Wieso ausgerechnet von dem? Ist das nicht jene seltsame Musik, die manchmal ein solches Chaos entfesselt, dass man ganz wirr und irr wird vor wild herumschwirrenden Tönen, die so gar keinen Sinn ergeben wollen? Ist das nicht dieses selbstgefällige Treiben musikantischer Nerds, die kaum etwas anderes zu wollen scheinen, als ihre instrumentaltechnischen Muskeln in überlangen Soli spielen zu lassen, um von einer winzigen In-Crowd bewundert zu werden? Und die der sonstigen Welt kaum etwas zu sagen haben?
Ja, das gibt es auch. Aber mittlerweile eher selten. Die Stärken dieser Musik liegen woanders. Diese Stärken sind: ein völlig buntes Miteinander, das harmoniert; eine besondere Reaktionsfähigkeit in unerwarteten Situationen; Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem; Toleranz gegenüber dem, was man nicht kennt. Und vor allem: ein wirklich offenes Ohr. Denn ohne das würde das musikalische Gesellschaftsmodell sogar in kleinsten Jazz-Ensembles überhaupt nicht funktionieren.
Toleranz und ein wirklich offenes Ohr. Ohne das würde das musikalische Gesellschaftsmodell überhaupt nicht funktionieren.
Louis Armstrong | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Geschichte des Jazz ist die Geschichte des Einander-Umarmens von Kulturen, die sich vorher fremd waren. Jazz also ist: ein Sound vielfacher Integration. Durch Integration ist er entstanden, um 1900 im Mississippi-Delta: aus einer Ko-Existenz, die kreativ wurde und in gegenseitiger Toleranz aufging, jedenfalls, was die Musik betrifft. Schwarze, Weiße, Kreolen; Klagegesänge, Kirchenmusik, Marschmusik: Alle gingen auf in swingenden Trauer-Prozessionen und in ausgelassen hottender Kaschemmen- und Bordellmusik. Und schon da kristallisierten sich musikalische Individuen mit besonders nicht-reglementiertem Personalstil heraus. Louis Armstrong, Buddy Bolden, Bunk Johnson, Johnny Dodds: Sie alle hatten einen unverkennbaren Sound, der sich nichts vorschreiben ließ.
Diese Musik verhalf einstigen Sklaven – und vor allem ihren Nachkommen – zu einer Stimme. Und sie ließ im Laufe der Zeit immer noch unterschiedlichere Stimmen nebeneinander zu. Jazz war Weltmusik, bevor jemand dieses Wort erfand. Afrikanische Rhythmen und Arten der Tonbildung trafen mit europäischen Formen, Instrumenten und Harmonien zusammen. Die Einflüsse erweiterten sich, es kamen lateinamerikanische und später wieder andere europäische Farben hinzu, fernöstliche, orientalische, indische.
Der Jazz schüttelte alle Einschränkungen ab, um wild und frei und so unvorhersehbar zu werden, wie keine Musik zuvor.
Der Jazz saugte alles auf und wandelte sich, nahm neue Gestalten an. Schüttelte alle Einschränkungen ab, um wild und frei und so unvorhersehbar zu werden wie vermutlich keine Musik zuvor. Er ging mit Rock-Instrumentarium in die Stadien, er lebte auf in rauchigen Clubs und edlen Konzertsälen, akklimatisierte sich in vielen musikalischen Biosphären, überlebte so auch den Jahrhundertwechsel – und Diktaturen an diversen Orten der Welt sowieso. Wurde im neuen Jahrhundert – ja eigentlich Jahrtausend – komplexer, vielschichtiger und entdeckte zugleich das Direkte, das Sinnliche wieder stärker. Und immer neue Farben und Klänge, in jüngster Zeit etwa besonders durch amerikanische Musiker mit indischen Wurzeln und junge Musiker aus Israel. Eine Kunst der freien Töne, die, wie es scheint, immer ihren Weg fanden.
Warum sind sie das – und warum schaffen sie das? Im Jazz ist – das weiß man – seit jeher die Improvisation ein wichtiges Element: das Schöpfen aus dem Augenblick. Nicht das Reproduzieren eines vorgegebenen Notentexts ist das Wesentliche dieser Musik, sondern das spontane Erfinden eines neuen. Das betrifft nicht nur die Soli, sondern auch die Begleitung – und in ganz freien Formen heben sich die Kategorien "Solo" und "Begleitung" ohnehin auf. Auch bekannte Stücke - Evergreens oder sogenannte "Standards" – klingen jedes Mal anders. Denn die Improvisationen hängen vom Ort ab, von der Tagesform, von den Menschen, die auf und vor der Bühne zusammentreffen.
Und das Besondere: Es ist alles möglich, weil es im Idealfall keine starren Regeln gibt, sondern Individuen, die sich gegenseitig die Gelegenheit geben, sie selbst zu sein. Sie sperren die Ohren auf und schmiegen ihre Töne ineinander. In den allerbesten Fällen entsteht dabei Magie: Magie der Begegnung, des Respekts voreinander. Des Nicht-Macht-Ausübens.
Es klang oben schon an: Selbstverständlich gibt es sie auch im Jazz, die Despoten, die Diven, die Muskelprotze. Aber lernen kann man von den vielen anderen. Denjenigen, die ihre Ohren öffnen und das Miteinander zum Ereignis werden lassen. Besser formuliert: Denen, die nicht nur selber gut klingen wollen, sondern auch viel dafür tun, dass andere gut klingen.
Hank Jones | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der amerikanische Pianist Hank Jones, der 2010 im Alter von 91 Jahren starb, war so einer – hochbegnadeter Begleiter von Sängerinnen und ein Aufheber von Hierarchien. Wolfram Knauer, Leiter des angesehenen Jazzinstituts in Darmstadt, schilderte einmal, wie er Jones an einem Abend mit einem auffallend schwachen Kontrabassisten erlebte, ihn in der Pause darauf ansprach und zur Antwort bekam: "Wart's ab, bis du sein Solo hörst". Nach der Pause erlebte Knauer von diesem Bassisten ein Solo, das ganz simpel gestrickt war, aber verblüffend gut klang, weil da im Hintergrund einer war, der den schwächeren Kollegen in andere Sphären hob: Hank Jones. Das ist Jazz!
Der Trompeter Miles Davis wird oft verdächtigt, ein ausnehmend herrischer Bandleader gewesen zu sein. Er wusste genau, was er wollte, sparte nicht an verbaler Deutlichkeit, zumal wenn es um die Leistung von Kollegen ging. Und doch: Etliche jüngere Musiker erniedrigte er nicht etwa, sondern erhöhte sie. Spätere Weltstars wie John McLaughlin, Wayne Shorter, John Scofield, Chick Corea, Herbie Hancock, Jack DeJohnette: Sie alle fanden nicht zuletzt durch Miles Davis ihre Stimme – oder perfektionierten sie, artikulierten klarer als zuvor. Das Werk eines Despoten?
Guter Jazz lässt andere gewähren. Egal, welche Hautfarbe sie haben, welches noch so exotische Instrument sie spielen. Sie dürfen – sollen sogar - ihren persönlichen Klang formen und ins Ganze einbringen. Wenn sie, das ist die Voraussetzung, genauso auch die anderen zu ihrem Recht kommen lassen.
Freiheit ist auch und gerade die Freiheit der Anders-Klingenden.
Würde man einen berühmten Satz von Rosa Luxemburg, der politischen Denkerin des frühen 20. Jahrhunderts, etwas abwandeln, dann käme ein guter Satz über Jazz heraus: Freiheit ist auch und gerade die Freiheit des Anders-Klingenden.
Enrico Rava auf dem Jazz-Festival in San Sebastian | Bildquelle: picture-alliance/dpa Es ist eine Freiheit, die sich über die Generationen fortsetzt. Der große italienische Trompeter Enrico Rava, geboren 1939, spielt heute mit Musikern, die seine Enkel sein könnten. Er hört ihnen zu. Und sie ihm. Es entsteht eine Musik mit ganz jungen Klängen – die zugleich den Sound einer großen Lebenserfahrung in sich trägt. Es ist eine Musik des ganz offenen und feinfühligen Dialogs. Zuhören, voneinander etwas annehmen und etwas zurückgeben. Und es kommt etwas heraus, das es ohne diesen Generationen-Dialog so nie geben würde. Nicht zuletzt, weil hier keiner den Boss heraushängen lässt, keiner die anderen übertrumpfen will. Enrico Rava beginnt seine Konzerte stets so: Er sagt, während die ersten Akkorde erklingen, nur die Namen seiner Kollegen. Den eigenen nennt er, wenn überhaupt, irgendwann später. Ganz wenig herausgekehrtes Ich, ganz viel Persönlichkeit. Und von den Jungen wiederum hat ganz offensichtlich keiner den Ehrgeiz, den Alten zu verdrängen: weil sie wissen, welche Dimensionen er durch seine große Erfahrung erschließen kann.
Was für ein Modell für Gesellschaften! Gesellschaften, die Gefahr laufen, sich in Egoismen zu verlieren, und die immer mehr bedroht werden – durch andere Gesellschaften, die sich längst verloren haben, weil sie keinen Dialog mehr führen, sondern vorwiegend um Macht ringen. Oder um Geld oder beides.
Offene Geister und freie Töne können nicht 'völkisch' sein.
Der Jazz, diese von vielen als altmodisch abgetane Kulturform, ist deshalb zeitgemäßer denn je – eben nicht nur, weil er so viel musikalischen Nachwuchs aus ganz jungen Generationen hat wie noch nie. Und vielleicht nie zuvor hätten die westlichen Gesellschaften es nötiger gehabt, ihre Ohren aufzusperren für das, was ihnen solch eine Musik zu sagen hätte. Es gibt im Jazz nichts national Begrenztes, es gibt nur Spielarten, und die sind beliebig, bunt und völlig frei mit einander zu kombinieren. Individualität ist hier Verbindungsglied und nicht Ausgrenzungsmechanismus: Offene Geister und freie Töne können nicht "völkisch" sein.
Rücksicht, Respekt, Toleranz, Ohren für andere und ein Ablegen der Selbstherrlichkeit: Dafür können die eigenwilligen Töne des Jazz stehen. Was spricht dagegen, sie gerade jetzt zu entdecken – und sich von ihnen und ihrer menschenfreundlichen und weltoffenen Flexibilität auch im alltäglichen, politischen Leben inspirieren zu lassen? Verlieren kann man dabei nichts, gewinnen mindestens spannende Töne. Sehr wahrscheinlich aber mehr.
Sendung: "Allegro" am 30. April 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (5)
Sonntag, 05.Mai, 00:10 Uhr
Christian Reischl
Jazz der Vielfalt
Vielen Dank für ihre politische Positionierung!!!!
Montag, 03.Oktober, 15:15 Uhr
Bebelaar
Genauso ist es!
Gerade die hier angesprochenen freieren Formen des Jazz leben ja von einer enormen Selbstdisziplin der Musiker. Denn nur, wer die Freiheit des Mitmusikers achtet und unterstützt, wird auch eben die wichtige musikalische Unterstützung seiner Kollegen erfahren. So entsteht Zusammenspiel und Miteinander. Eine Kommunikation, in der jeder gleichberechtigter Gesprächspartner ist, Für- oder Gegenrede halten kann ohne Sanktionen zu fürchten und ohne die zuvor gegebenen Aussagen der Kollegen zu diskreditieren.
Jazz war und ist immer eine politische Aussage. Ein Bekenntnis zur Toleranz und die Aufforderung die Utopie ins Leben zu tragen und umzusetzen.
Vielen Dank für diesen Artikel, der wieder einmal mehr zeigt, dass die Worte Frank Zappas über den Jazz einfach nicht stimmen. Der Jazz lebt!
Montag, 26.September, 17:52 Uhr
Emmerich Hörmann
Jazz ist Freiheit
Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag.
Man mag es ja kaum glauben, mit welchem politischen Hinterwäldlertum man sich heute wieder herumschlagen muß. Da werden wieder Begriffe in den Umlauf gebracht, die längst im Orkus der Geschichte versunken zu sein schienen.
Um so wichtiger ist der Hinweis auf den Jazz, der eine ganz andere, inzwischen auch schon gut hundert Jahre alte Tradition und Kunstform darstellt und gerade heute so lebendig ist.
Vom Jazz aus gesehen, erscheinen alle Debatten um kulturelle Identität und Leitkulturen nur als Verhärtungen, die in ihrer Kunstfremdheit dasjenige zerstören, was sie zu bewahren vorgeben.
Mittwoch, 21.September, 15:35 Uhr
Tom Schreyegg
Danke!
Vielen Dank für diesen Artikel. Es ist nicht leicht, die "Idee" Jazz in Worte zu fassen; umso erfreulicher, dass es hier so wunderbar gelungen ist.
Dienstag, 20.September, 13:28 Uhr
SaoiAebi
Mehr Jazz braucht die Welt (und die Bildung)
Herzlichen Dank für den tollen Artikel.
Leider wird in dieser Zeit von aufstrebenden Autokraten und verängstigten Wutbürgern gerade der Kunst und der Kultur seitens der Medien und der Politik kaum Platz eingeräumt und finanzielle zu wenig gefördert.
Womöglich deshalb gibt es in der Schweizer Politik auch vermehrt das Bestreben, künstlerische Fächer wie Bildnerisches Gestalten und Musik zu kürzen, obwohl eine kulturelle Bildung für die Gesellschaft und die individuelle Persönlichkeit weitaus wichtier ist als beispielsweise der Mathe-Unterricht.
Gut möglich, dass andere Kantone - egal ob in der Schweiz oder in Deutschland - dieser kurzsichtigen Sparwut folgen werden.
Bildung und Kultur auf Sparflamme.
Dabei bräuchte die Welt doch mehr Jazz.