Am Freitagabend saßen die G20-Staatschefs in der Hamburger Elbphilharmonie und lauschten dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Es erklang Beethovens berühmte Neunte Symphonie, am Pult stand Kent Nagano, als Solistin sang unter anderen die Sopranistin Christiane Karg. Draußen tobten während des Konzerts die Unruhen im Schanzenviertel. Bernhard Neuhoff bedauert, dass sich schon Beethoven für eine entschärfte Textvariante entschieden hat und ist überzeugt: Auch Musiker sollten Stellung beziehen!
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Der Kommentar von Bernhard Neuhoff zum Anhören
"Alle Menschen werden Brüder". Ein überschwänglicher Satz, ein großartiger Anspruch. Die Sopranistin Christiane Karg hatte vorab gesagt, sie werde diesen Satz ganz besonders laut singen, damit er den Mächtigen in den Ohren klingt. Denn das ist ja offensichtlich: Zahlreiche Politiker, die am Freitagabend in der Elbphilharmonie saßen, verstoßen regelmäßig gegen den Geist dieser Worte. Ja, einige treten Beethovens menschenfreundliche Utopie mit Füßen. War das Konzert also eine verlogene Inszenierung? Eine Demonstration der Ohnmacht hehrer Sonntagsreden, weil sich sogenannte Autonome gleichzeitig Schlachten mit der Polizei lieferten, Straßenzüge und Autos demolierten? Oder war das Ganze gar "ein obszöner, ja pornographischer Missbrauch von Kunst", wie Joachim Lux, der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, sagte?
Die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten, teilweise mit Partnern, sitzen in der Elbphilharmonie. | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Axel Schmidt Zumindest diesen letzten Vorwurf kann man leicht entkräften. Denn an den humanistischen Absichten Kent Naganos, der Ensembles und der Solisten gibt es nicht den geringsten Zweifel. Immerhin: Der türkische Präsident Erdogan hat das Konzert geschwänzt. Er wird schon seine Gründe dafür gehabt haben. Allerdings weiß niemand mit Sicherheit, ob Erdogan den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hat. Und selbst wenn: Beweist das wirklich, dass die Botschaft dieser Musik gerade bei den Politikern angekommen ist, die sie am bittersten nötig haben? Hätte nicht auch ein Erdogan die Provokation dieses Werkes weglächeln können? Anderen autoritären Machthabern ist das schließlich am Freitagabend spielend gelungen. Sie haben Beethovens Einspruch gegen Tyrannei und Nationalismus mehr oder weniger gelangweilt über sich ergehen lassen - und wer weiß: vielleicht sogar auch musikalisch genossen, ohne dass sich das Geringste an ihrer Politik ändern wird.
Bildquelle: BR/ Undine Fraatz "Alle Menschen werden Brüder" - diesem Satz haben schließlich schon ganz andere politische Verbrecher lächelnd applaudiert, während sie genau das Gegenteil bewirkten. Die Geschichte des Missbrauchs von Beethovens Neunter ist lang. Sie reicht von Hitler über Stalin bis zum einstigen Apartheids-Regime der Republik Rhodesien, das ausgerechnet die "Ode an die Freude" als Nationalhymne verwendete. "Alle Menschen werden Brüder" - das lässt sich eben leicht als frommer Wunsch auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Ursprünglich lautete der Vers ganz anders: "Bettler werden Fürstenbrüder". Beethoven zitiert diesen Satz in seinen Notizen. Ganz offensichtlich war das seine eigentliche Botschaft. Doch leider entschied er sich für die entschärfte, von Schiller selbst verharmloste zweite Fassung. "Bettler werden Fürstenbrüder": Dieser Satz hätte für die G20 allergrößte Aktualität gehabt. Doch schon Schiller und Beethoven sind Kompromisse mit den Mächtigen eingegangen. Man muss nur an das Schlachtengemälde "Wellingtons Sieg" denken. Selbst für die G20 des Jahres 1814 war sich Beethoven nicht zu schade: In der Kantate "Der glorreiche Augenblick" huldigte er den reaktionären Fürsten auf dem Wiener Kongress. Beethoven hat damit zugelassen, dass seine Werke zur bloßen Dekoration wurden.
Wer als Musiker sichergehen will, dass seine Kunst nicht missbraucht wird, der sollte sich besser nicht darauf verlassen, dass die Musik schon für sich selber sprechen wird. Der muss im Zweifelsfall das Wort ergreifen, sich eindeutig positionieren. Entweder indem man, wenn sich die Gelegenheit bietet, Worte ans Publikum richtet, wie das Pianist Igor Levit getan hat. Oder aber - wenn man im Konzert die Musik nicht durch das Wort relativieren möchte, was viel für sich hat - indem man als Künstler in Interviews öffentlich Stellung bezieht. Große und überzeugende Vorbilder dafür gibt es: Arturo Toscanini, Leonard Bernstein oder, ganz aktuell, die Pianistin Gabriela Montero. Politisch ist ein Werk wie Beethovens Neunte so oder so. Aktuell und dringend notwendig ist ihre Botschaft unvermindert. Aber unmissverständlich wird sie nur, wenn sich Künstler aktiv als Staatsbürger verstehen und klar Position beziehen.
Kommentare (6)
Sonntag, 16.Juli, 06:29 Uhr
Carolle Enkelmann
Beethoven's 9
Politiker sitzen in ein 'ivory tower'. Ye höher, desto mehr entfernt von die Realität und die Belangen die Bevölkerung sind sie. Deswegen werden sie 'Beraten'. Von wem, ist die Frage, und zu welchem Preis?
Macht misbrauch und cynisysm sind Symptome von ständig 'compromise Bereitschaft' die das Leben (und Politiks, als reflektion des Lebens) fördert. Ob man in ein Trump Tower sitzt oder Elephant-bein Tower, ohne Ideale ist man nichts. Und es muss gesehen werden, diesen Idealen in die Praxis zu setzen. Wer weiß was, und an wem und wann solche Auswirkung die Beethoven's 9 haben könnte. Sicher ist es, weil Religion und Politiks komische Bett-kommandatoren macht, Alle sind gleich, nur Manche sind gleiche als Andere. Es ist nur schade das die Spirale von 'Reaktionärism' in motion gesetzt wird, von Beiderseits, die die Regieren und die Regieten. Sag dann, Adieu Demokratie. Es gibt keine richtigen Anwort. Wir Leben in zunehmenden unsichere Zeiten.Wieviel arbeitet Politik hinter die Kulissen?
Mittwoch, 12.Juli, 13:57 Uhr
Oldi
Apell
Darf man an Gutes nicht mehr appellieren, nur weil es viel Schlechtes auf der Welt gibt?
Ist die Welt gerecht?
Ist es gerechter einem Polizisten ein Dachziegel auf den Kopf zu werfen als einem Polizisten dem in Rosenheim aus Wut die Hand massiv ausgerutscht ist, dann die Existenz genommen wird?
Ist es gerechter, daß einem Arzt ein Kunstfehler aus Gier unterläuft, dieser jedoch weiter praktizieren darf?
Ist es gerecht, daß ein Anwalt in Hamburg Gewalt billigt, aber bitte im eigenen Viertel nicht und dieser noch immer Anwalt sein darf?
Diese wenigen Auszüge zeigen doch wie schwer Gerechtigkeit zu definieren ist. Soll deswegen aufgehört werden, nach mehr Gerechtigkeit zuminest zu streben?
Dazu gehört für mich dieses Konzert als Appell und der Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit.
Mittwoch, 12.Juli, 08:25 Uhr
nobi
G2o
Ein sehr gut durchdachter Kommentar. Danke!
Dienstag, 11.Juli, 23:44 Uhr
Lies
Einspruch!
Wenn ich dieser Argumentation folge, dann dürfte es bei allem Elend auf der Welt gar keine kulturellen, gesellschaftlichen Genüsse mehr geben.
Ich würde das als Heuchelei ansehen. Nebenbei wäre es eine Kapitulationserklärung. Es finden sich zu allen Themen der Welt Menschen, die wutgebürgert, frustriert, benachteiligt oder aus falschen Idealen, den anderen Menschen nichts mehr gönnt oder gönnen will.
Dienstag, 11.Juli, 13:51 Uhr
Ilg Josef
Kommentar zum G20 Konzert von Neuhoff
Mir graut bei dem Gedanken und seiner Realisierung, wenn Musiker bzw Künstler "sich aktiv als Staatsbürger verstehen und klar Position beziehen." Die Konsequenz: Pape in der Rolle des Sarastro verlässt vor seiner Arie den läppischen Schickaneder-Text und bezieht seine staatsbürgerliche poltische Position zu dem von ihm zu Singendem um die bzw. seine Kunst vor Mißbrauch durch die oder einige anwesende Zuhörer zu schützen. Das ist von Herrn Neuhoff doch ausgezuzelter Gedankenquark, hier nochmals ausgewalzt wird er nur breit, nicht stark. Ja, der Künstler soll und muss sich darauf verlassen, dass seine Kunst, seine Darbietung, seine Interpretation, in diesem Fall die MUSIK für sich selbst spricht. Richtig und wichtig ist das Postulat Neuhoffs aber nur dialektische gewendet! Die Zuhörer haben sich POLITISCH aktiv als Staatsbürger zu verstehen und Position zu beziehen, damit Kunst nicht mißbraucht wird. Das wär's!
Montag, 10.Juli, 17:35 Uhr
Helmuth Schulze-Fielitz
Kommentar zum G20 Konzert von Neuhoff
Seit gut 200 Jahren (1776, 1789) gibt es die Menschenrechtsidee breitenwirksam juristisch dokumentiert, die bei Beethoven musikalisch gefasst wird. Sie wird seitdem in ganz kleinen Schritten verwirklicht - die ersten amerikanischen Präsidenten hatten noch Sklaven, einige Schweizer Kantone bis vor wenigen Jahrzehnten kein Frauenwahlrecht, auch bei uns wurden Homosexuelle vor kurzem noch strafrechtlich verfolgt. Der Fortschritt ist eine "Schnecke". Solche Konzerte sind ein ganz kleiner Mosaikstein des Anstoßes auf diesem Weg. Nur wer keine Ahnung von den Schwierigkeiten politischer Prozesse auf den Wegen historischen Fortschritts hat, kann Glauben, durch einfaches mäkelndes Moralisieren verändere er die Welt zum Besseren.