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Überschätzt und unpassend: Das Finale aus Beethovens Neunter "O Freunde, nicht diese Töne"

Wie wäre es, wir nähmen Beethoven in den ersten Worten aus der "Ode an die Freude" einmal wörtlicher, als er es gedacht hat? Wäre es vorstellbar, eine Weile auf ein überstrapaziertes Stück Musik zu verzichten, sagen wir, für ein Jahr? BR-KLASSIK-Redakteur Oswald Beaujean rechnet mit der Tradition ab, dass zum Jahresende allerorten das hohe Lied der Brüderlichkeit angestimmt wird.

Oswald Beaujean Programmbereichsleiter und Programmbeauftragter  BR-KLASSIK | Bildquelle: BR/Lisa Hinder

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Ein Popanz zur öffentlichen Verehrung

Auch wenn es nur die Wenigsten hören möchten: Die Ode an die Freude, das Finale der "Neunten", ist der problematischste Satz aller Beethoven-Symphonien. Wenn Theodor W. Adorno Beethovens Symphonien als "Volksreden an die Menschheit" hörte, dann gilt das sicher für keine dieser Symphonien so, wie für die "Neunte". Dabei stört es schon lange niemanden mehr, dass Schillers und Beethovens Botschaft von der Brüderlichkeit aller Menschen bis heute eine Utopie blieb. Flüchtlingsströme, weltweite Kriege, wachsende soziale Ungerechtigkeit (auch durch die Folgen der Umweltzerstörung) - wer mag daran schon denken, wenn der Götterfunke zum Jahresende allerorten so herrlich zündet. Eigentlich müsste uns das Pathos dieses Finales ziemlich hohl in den Ohren klingen. Ob Beethoven diesen Satz heute wirklich noch hören wollte, gerade er? Oder ob nicht auch er der Meinung Claude Debussys wäre, der schon vor mehr als einem Jahrhundert schrieb, man habe aus der Neunten "einen Popanz zur öffentlichen Verehrung" gemacht? Vielleicht hätten beide inzwischen längst zu ganz anderen Vokabeln gegriffen.

Anfechtbar wie kein zweiter Satz Beethovens

Beethoven | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bildquelle: picture-alliance/dpa Doch das Freuden-Finale ist - weltweit und keineswegs nur für die Deutschen - sakrosankt, eine heilige Kuh. Das war nicht immer so. Dass der Satz nicht nur in seiner Botschaft problematisch bleibt und nicht zufällig von der Politik jeglicher Couleur schamlos missbraucht wurde und wird, dass er vielmehr auch aus ästhetischem Blickwinkel anfechtbar ist wie kein zweiter Satz Beethovens, das haben Zeitgenossen des Komponisten (und auch bedeutende Nachfahren) sehr wohl gehört. In ihren Reaktionen ist noch jene Irritation spürbar, die Beethovens Musik heute schon längst nicht mehr auslöst, weil wir sie - wie Adorno über die "Missa Solemnis" meinte - in eine "Aura beziehungsloser Verehrung" entrückt haben. Damalige Rezensenten, durchaus auch wohlwollende, beklagten angesichts des Freuden-Finales "ein Hinaufschrauben der edlen Menschenstimmen fast bis zum Geschrei". Nicht wenige hielten den Satz für den schwächsten Teil des ansonsten genialen Werkes, so auch Richard Wagner, ein glühender Verehrer der Neunten.

Heute formuliert man das vornehmer, wie etwa der Dirigent Peter Gülke, für den "ohne ein Moment äußerster Anstrengung (...) das Pathos des Freuden-Finales nicht denkbar und erreichbar" ist. Nicht hörbar wohl auch, möchte man hinzufügen. Denn was in der "Missa Solemnis" stellenweise als unerfüllter, aber immer faszinierender Rest ins Reich der Utopie überschießen mag, das trägt im Finale der Neunten mühsam am erdenschweren Ballast des klanglich Ungelösten, um nicht zu sagen, leicht Banalen. Ein Moratorium also? Solange, bis irgendwann die Irritation zurückkehrt, wir zumindest die utopische Botschaft dieser Musik wieder vernehmen, anstatt uns in falscher Zufriedenheit lediglich selbst zu beweihräuchern? Ein Jahrausklang ohne "Neunte", zumindest ohne Finale? Das ist utopischer als die Botschaft des Freuden-Finales. Auch wenn uns in der Realität Bankenrettungen mehr wert sind als die Solidarität mit den Flüchtlingen, auch wenn die Brüder nebenan sich gerade wieder einmal totschlagen: In diesem Dezember werden wir es weltweit wieder wie gewohnt anstimmen, das hohe Lied der Brüderlichkeit. 

Kommentare (3)

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Montag, 04.Januar, 23:04 Uhr

klaus mauter

freudenzwang

nachdem herr beaujean sich so weit vorgewagt hat, an den grundfesten europaeischen sebstverstaendnisses (als freudetrunkener gesellschaft ?!) zu ruetteln, wage ich hinzuzufuegen,dass ich 80 jaehriger klassik-fan mich seit jeher bemuessigt fuehlte ,mich aus jenem bund freudeschreie skandierender choristen davonzustehlen,wie es unser grosser nationaldichter sch.gottlob fuer abweichler vorsah. fuer mich jedenfalls klingt beethovens vertonung seit je wie unteroffiziers-befehls-geschrei auf einem kasernenhof. wenn ueberhaupt,hoere ich mir den satz in bernsteins version mit der freiheit an, (herr handstein hat freiheit m.e. sehr passend als motto seiner b.- hoerbiographie gewaehlt),vielleicht in der hoffnung,dass man freiheit herbeischreien kann, (und wohl manchmal muss) was ich mir fuer freude einfach nicht vorstellen kann . ansonsten freuden durchaus nicht abgeneigt klaus mauter in germering

Samstag, 02.Januar, 17:18 Uhr

Heidi Salzer

Schlußgesang "Ode an die Freude"

Verehrter Oswald Beaujean,
Ihre Worte sprechen mir aus der Seele: dieses lärmende Anhängsel mit seinem chorus brüllus und Geschrei der an sich ganz wundervollen Sinfonie Nr. 9 hat in mir noch nie Freude ausgelöst, allenfalls Befremdung. Daß nun eine Persönlichkeit mit solcher Kompetenz in der aktuellen Musikszene eine ähnliche Wahrnehmung äußert, hat mich einfach ganz außerordentlich gefreut. Ihre Sendungen, Beiträge und Interviews - immer eine wahre Bereicherung für mich.

Dienstag, 29.Dezember, 13:33 Uhr

Fritz Tegularius

Meinung muss untermauert werden. Ohne schlüssige Argumentation ist sie wertlos. Die Frage – und die ist ja das einrahmende Element des Artikels –, inwieweit man feiern darf, während in anderen Ländern Krieg herrscht, ist nicht sonderlich neu. Ebenso die Beschäftigung mit Beethovens 9ter, wobei dabei auch im wissenschaftlichen Diskurs abstruse Theorien entstehen (bzgl. Beethovens 9. siehe Susan McClary). Dass der Satz "vielmehr auch aus ästhetischem Blickwinkel anfechtbar" ist, wird nicht wirklich weiter ausgeführt, leider. Vielleicht sollte das ja das Zitat, er sei "ein Hinaufschrauben der edlen Menschenstimmen fast bis zum Geschrei". Leider ist ein Zitat ohne Quellenangabe und Kontext vollkommen nutzlos und irreführend.
Am ehesten ist doch an der übertrieben Verehrung einzelner Werke der Konzertbetrieb schuld. Dort werden immer die gleichen Evergreens aufgeführt (worunter auch Beethovens 9te fällt) - das Publikum will ja nichts andres.

Daran etwas zu ändern, ja, das wäre utopisch!

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