In Österreich tausend Zuschauer, in Bayern nur zweihundert? Zwei Münchner Orchester protestierten in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Markus Söder gegen die streng reglementierten Besucherzahlen bei Kulturveranstaltungen. Immerhin: Ein Pilotprojekt, beschränkt auf die Bayerische Staatsoper, soll nun 500 Personen im Publikum ermöglichen. Für alle anderen Säle in Bayern gilt das nicht. Unverhältnismäßig, findet BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff.
Wir stehen im Nebel, aber Nichtstun ist keine Option. Corona zwingt zum Handeln ohne abschließend gesichertes Wissen. Die Politik musste schnell entscheiden, und wie es scheint, hat sie in Deutschland gerade noch schnell genug entschieden. Corona zwingt aber auch zum permanenten Lernen. Gewissheiten von gestern erweisen sich als zweifelhaft. Scheinbar dringende Maßnahmen waren doch nicht so dringend. Andere dagegen wären viel wichtiger gewesen.
Es wäre abstoßend selbstgerecht, diese objektiv schwierige Lage den Entscheidungsträgern zum Vorwurf zu machen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik Lernfortschritte verweigern dürfte. Je mehr Zeit vergeht, je mehr Erfahrungen vorliegen, desto passgenauer müssen die Maßnahmen sein. Und das passiert ja auch – fast überall. Nur nicht in der Bayerischen Kulturpolitik.
Doch es bleibt eine gute Nachricht: Soweit bislang bekannt, haben sich schlimme Cluster von Ansteckungen im Musikbereich nur hinter oder auf der Bühne ereignet, meist bei Proben, nicht aber im Zuschauerraum. Verglichen mit dem, was in anderen Bereichen unserer Gesellschaft passiert, kann man deshalb schon jetzt sagen: Kulturveranstaltungen sind weniger gefährlich als man im März und April annahm, annehmen musste. Das ist kein Vorwurf gegen die damalige Entscheidung, die konnte nur auf damaligem Wissensstand getroffen werden. Doch jetzt ist es an der Zeit, pauschale Regeln anzupassen.
Einer der wichtigsten Grundsätze unseres Rechts ist die Verhältnismäßigkeit. Jeder Eingriff des Staates muss legitime Ziele verfolgen. Daran besteht in diesem Fall kein Zweifel. Er muss geeignet sein, diese Ziele zu erreichen – auch diese Bedingung ist erfüllt: weniger Leute, weniger Gefahr. Mit diesen Argumenten allein könnte man aber auch eine Begrenzung auf nur zwanzig Zuschauer verlangen. Daher muss jede Maßnahme auch erforderlich und angemessen sein. Das heißt, es darf keine mildere Variante geben, die den gleichen Zweck erfüllt. Genau das ist aber der Fall – wie nicht nur das Beispiel Salzburg zeigt. Deshalb ist die pauschale Obergrenze von zweihundert Personen nicht begründbar. Und Ministerpräsident Söder gibt sich auch keine Mühe, diesen bayerischen Sonderweg zu begründen: Einen Offenen Brief von zwei Münchner Spitzenorchestern vom vergangenen Donnerstag ließ die Staatskanzlei bis heute unbeantwortet. Immerhin, der jetzt angekündigte Pilotversuch an der Bayerischen Staatsoper geht in die richtige Richtung. Doch auch er wirkt seltsam willkürlich. Warum sollte das, was im Münchner Nationaltheater möglich ist, in der Nürnberger Meistersingerhalle oder im Audimax der Universität Regensburg nicht möglich sein? Eine Begründung dafür sucht man vergeblich.
Dazulernen ist keine Schande. Österreich macht's vor.
Sendung: "Leporello" am 31. August 2020 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK