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Der Dirigent Andrew Manze "Brahms war für mich immer etwas Magisches"

Am 6. und 7. Juli leitet der britische Dirigent Andrew Manze zwei Konzerte der Münchner Philharmoniker. Im Interview spricht er über die Historische Aufführungspraxis, sein Interesse an der antiken Mythologie sowie den Brexit. Und die Frage "Lieben Sie Brahms?" würde er eindeutig mit Ja beantworten.

Bildquelle: Benjamin Ealovega

Das Interview zum Anhören

BR-KLASSIK: Obwohl Sie seit geraumer Zeit dirigieren und seit 2014 der Chef der Radiophilharmonie in Hannover sind, habe ich Sie immer noch als Geiger im Kopf, zum Beispiel mit Corelli oder mit den Händel-Sonaten mit Richard Egarr am Cembalo - welche Rolle spielt denn die Geige für Sie heute noch?

Andrew Manze: Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber ich spiele nicht mehr Geige, schon seit neun Jahren und zwei Wochen. Aber ich komme hier nach München zu den Philharmonikern, ich sehe und höre diese wunderbaren Geigen, bin immerzu umgeben von Geigen, nur spiele ich eben nicht mehr selbst.

BR-KLASSIK: Sie musizieren hier mit den Münchner Philharmonikern, und ihr Orchester ist ebenfalls ein modernes. Haben Sie sich denn inzwischen auch von der Idee der Historischen Aufführungspraxis entfernt?

Der Dirigent Andrew Manze | Bildquelle: Benjamin Ealovega Andrew Manze | Bildquelle: Benjamin Ealovega Andrew Manze: Immer diese Frage nach der Aufführungspraxis … Ja, ich lese viele Bücher dazu, aber wenn ich in einer Probe oder im Konzert bin, dann denke ich nicht an das Buch, dann denke ich an die Musik, die wir gerade machen. Und so geht es natürlich auch den Musikern. Gestern zum Beispiel haben wir über Vibrato gesprochen, aber nicht in einem historischen Sinn, sondern in einem musikalischen: Wozu brauchen wir an dieser Stelle bei Brahms Vibrato? Oder auch die Bogenführung. Viele ändern diese Angaben heutzutage: Ich hingegen will gerne zu ihnen zurück - nicht, weil sie original sind, sondern weil sie gut sind!

Es sollte ums Herz gehen, ums Gefühl - darum, wie man auf Musik reagiert.
Andrew Manze

BR-KLASSIK: Also ist es weniger ein intellektueller Zugang als ein gefühlter, ein emotionaler Zugang.

Andrew Manze: Ganz genau. In der Bewegung der Historischen Aufführungspraxis ging es immer viel um den Kopf - vielleicht sollte es ein wenig mehr ums Herz gehen, ums Gefühl, darum, wie man auf Musik reagiert.

BR-KLASSIK: Trotzdem haben Sie ja viel für Ihren Geist getan: Sie haben in Cambridge studiert, aber nicht gleich Musik, sondern Latein und Griechisch. Warum?

Andrew Manze: Ich liebte diese Fächer in der Schule, und ich habe das Studium sehr genossen. Ich profitiere auch immer noch davon. Diese Woche führen wir Texte von Hölderlin, Goethe und Schiller auf, alle vollgepackt mit Bezügen zur Antike - und ich kenne die eben gut. Aber auch die Art, wie man das studiert: Es ist wie ein Puzzle, man hat nur ein paar Teile, muss daraus aber das Gesamtbild konstruieren. Und bei Musik ist das eben ähnlich. In der Partitur steht nur ein Teil der Information - und aus diesen schwarzen Punkten muss man das Gesamtkunstwerk herauslesen. Da hat mir mein Studium sehr geholfen.

Ich fühle mich sehr wohl in der antiken Ideen-Welt - seit ich angefangen habe, Homer zu lesen.
Andrew Manze

BR-KLASSIK: Es geht also um Weitblick, auch um die antike Mythologie, die ja sowohl im "Schicksalslied" als auch in der "Nänie" oder im "Gesang der Parzen" von Brahms zum Tragen kommt. Vertrauen Sie denn selbst sehr auf das Göttliche in der Welt?

Andrew Manze: Ich fühle mich sehr wohl in dieser Ideen-Welt - seit ich angefangen habe, Homer zu lesen. Diese Idee des Göttlichen und des Menschlichen - also der realen Welt - Seite an Seite. Mein Deutsch ist sehr schlecht, aber ich lese diese Gedichte sehr gerne in Übersetzung. Heute hat es vielleicht was von Eskapismus, aber ich mag diese Welt.

BR-KLASSIK: Sie machen in München ein komplettes Brahms-Programm. Wie nah ist Ihnen denn dieser deutsche Komponist, dem ja auch Kühle und Schwermut nachgesagt werden.

Der Komponist Johannes Brahms | Bildquelle: picture-alliance/dpa Johannes Brahms | Bildquelle: picture-alliance/dpa Andrew Manze: Brahms ist sehr bekannt in England, auch wenn er ja gesagt hat, England sei "das Land ohne Musik". Das Beste, was mir passieren konnte, war, was meine Mutter einmal zu mir sagte: Als ich so etwa 14 Jahre alt war, gab es ein Konzert in meiner Heimatstadt mit Brahms. Und meine Mutter sagte: Nein, dahin nehme ich dich nicht mit, du bist zu jung für Brahms. Und natürlich dachte ich sofort: Ich will Brahms! Und ich hatte Glück, weil ein Musiklehrer von mir Brahms sehr liebte. Er gab mir heimlich Bücher, Noten von Brahms, und meine Mutter durfte nichts davon wissen. Brahms war für mich immer etwas Magisches. Nicht nur großartige Musik, sondern etwas sehr Besonderes - wie eine geheime Welt, die nur Auserwählten offen stand.

Da liegt viel Hybris drin, dass die Briten denken, sie wären besser dran ohne die Bruderschaft der Nationen.
Andrew Manze

BR-KLASSIK: Auch das Schöne muss sterben, so heißt es am Beginn der Nänie. Momentan scheint ja die Idee des geeinten Europas zu sterben, zumindest mit Großbritannien. Wie blicken Sie denn auf diese Entwicklung des "Brexit"?

Andrew Manze: Oh, der Brexit … Das macht mich wirklich traurig. Ich verbringe die meiste Zeit im Festland-Europa, lebe in Stockholm, arbeite mit der NDR Radiophilharmonie in Hannover. Ich kann nicht verstehen, warum die Briten von diesem wunderbaren Zusammenschluss weg wollen, an dem wir über Jahrzehnte gearbeitet haben. Ich denke, es war eine unlogische und schlecht informierte Entscheidung. Mittlerweile ist klar, dass die Wähler nicht wussten, wofür sie da gestimmt haben: Keiner weiß, was der Brexit wirklich ist. Also das Ganze ist ein großer Fehler, und ich hoffe einfach darauf, dass der Ausstieg nicht wirklich kommt. Es gibt ein Prozent Hoffnung, dass sich das noch ändert. Das Gute ist: Andere Länder sehen diesen Fehler und wissen die Europäische Gemeinschaft wieder zu schätzen.

BR-KLASSIK: Fällt Ihnen denn dazu eine Parallele in der antiken Mythologie ein, die Sie zitieren könnten?

Andrew Manze: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber wenn Sie mich so fragen: Da liegt viel Hybris drin, dass die Briten denken, sie wären besser dran ohne die Bruderschaft der Nationen, wie ich es gerne nenne. Und vermutlich wird Nemesis folgen, wenn sie erkennen, welchen Fehler sie gemacht haben. Wahrscheinlich gibt es noch mehr solche Analogien, darüber muss ich noch weiter nachdenken (lacht).

Das Konzert in München

Donnerstag, 06. Juli 2017, 20.00 Uhr
Freitag, 07. Juli 2017, 20.00 Uhr
München, Philharmonie im Gasteig

Johannes Brahms:
Serenade Nr. 1 D-Dur op. 11
"Nänie" op. 82
"Gesang der Parzen" op. 89 von Goethe für sechsstimmigen Chor und Orchester
"Schicksalslied" op. 54

Philharmonischer Chor München
Münchner Philharmoniker
Leitung: Andrew Manze

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