"Wenn ihr wüsstet" – der Titel verspricht Brisantes, weckt Erwartungen an eine Abrechnung. David Garrett beschreibt in seiner Autobiografie den Weg vom sonderbaren Wunderkind zum König des Geigen-Crossover. Gewährt das Buch tatsächlich einen ehrlichen Einblick in das Leben des Stargeigers? Oder bleibt es an der Oberfläche?
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Die Latte in dieser Autobiografie liegt sehr hoch: "Etwas anderes als Perfektion kam nicht infrage." Diesen Satz lesen wir ganz zu Beginn dieser 368 Seiten. Und auch, dass sich David Garrett schon als kleines Kind eigentlich für ein "unmögliches Instrument" mit "brutalem Schwierigkeitsfaktor" entschieden hat: "Nehmen wir zum Vergleich das Klavier. Vorausgesetzt, das Instrument ist ordentlich gestimmt, brauche ich nur eine Taste niederzudrücken und erhalte prompt den gewünschten Ton, rein und unverzerrt." Doch, das steht da. Auf Seite 20. Damit macht man sich in Pianistenkreisen keine Freunde ...
Ich arbeite, bis alle wieder glücklich sind.
Die Kindheit des David Garrett ist keine. In den Augen seiner Schulkameraden führt er das Leben eines Sonderlings. Ausflüge und Skiurlaube kennt er nur aus den Erzählungen seines Bruders. Als geigendes Wunderkind hat er zu üben, zu liefern, Erwartungen zu erfüllen: "Es liegt an mir, ob meine Familie einen schönen Tag hat. Ich arbeite, bis alle wieder glücklich sind." Der Vater ist ein Kontrollfreak, der in jeder Unterrichtsstunde dabeisitzt. Und selten zufrieden ist: "Was, wenn du an jedem Abend allen Fortschritten zum Trotz mit dem Gefühl zu Bett gehst, wieder einmal nicht gut genug gewesen zu sein?" Das ist grausam. Unverantwortlich. Tragisch. Der harmoniesüchtige Plauderton, mit dem Garrett seine Familie in diesem Buch zusammenhalten will, macht alles noch schlimmer: "Hat mein Vater mich zum Sklaven der Geige gemacht? Nein, ganz und gar nicht. Ich war ja nicht zur Kinderarbeit im Bergwerk verurteilt – ich habe klassische Musik gemacht!"
Mit 41 Jahren zieht David Garrett Resümee – in seiner Autobiografie "Wenn ihr wüsstet". | Bildquelle: dpa-Bildfunk/Hendrik Schmidt
Mit papiernen Sätzen dieses Formats füllt David Garrett Seite um Seite. Und vieles fühlt sich nicht ehrlich an. "Heute weiß ich, dass alles richtig war, auch wenn vieles falsch war." Die Kapitel, 45 insgesamt, heißen "Das geheime Tonband", "Der Stein kommt ins Rollen" und "Schneegestöber in Manhattan". Sie erzählen von Liebe und Liebeskummer, von "schwankenden Hängebrücken zwischen Wunderkind und erwachsenem Künstler", von großer Freiheit und fulminanten Tourneen. Garrett lernt bei den ganz Großen: Isaac Stern, Ida Haendel und Itzhak Perlman. Doch die sind lediglich schmückendes Beiwerk seines von ihm selbst als singulär empfundenen Talents. "Der Applaus brandete gleich nach der letzten Note des dritten Satzes auf." Und man fragt sich: Ja, wann denn sonst?
Sie sind alte Freunde und könnten doch kaum unterschiedlicher sein: Julia Fischer und David Garrett. Für BR-KLASSIK haben sich die beiden Weltstars getroffen und sich u.a. über Crossover oder das richtige Outfit unterhalten. Sehen Sie hier das Gespräch mit Julia Fischer und David Garrett als Video.
"Wenn ihr wüsstet" – der Titel dieser Autobiografie weckt Erwartungen an eine Abrechnung, zu der Garrett nicht bereit ist. Denn dann müsste sich der König des Crossover auch eingestehen, dass seine klassische Geigenkarriere nicht den allerhöchsten Ansprüchen genügt. Dieses Buch ist ein Schrei nach Liebe und Anerkennung – bei Garretts Familiengeschichte verständlich, aber in seinem permanent zur Schau gestellten Entzücken an sich selbst nur schwer erträglich.
David Garrett
"Wenn ihr wüsstet" – Die Autobiografie
Heyne Verlag, 2022
368 Seiten
Preis: 22,00 EUR
Sendung: Leporello am 14. März 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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