Die wechselvolle Geschichte der Bayerischen Staatsoper Anfang des 20. Jahrhunderts während der Naziherrschaft und die Ruine im und nach dem Zweiten Weltkrieg - diese Epoche beleuchtet Jürgen Schläder in seinem Buch "Wie man wird, was man ist." Zusammen mit Doktorandinnen und Doktoranden hat der Münchner Professor für Theaterwissenschaft die NS-Vergangenheit und die Verstrickungen nach 1945 recherchiert und aufgearbeitet. Annika Täuschel hat Jürgen Schläder zum Interview getroffen.
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BR-KLASSIK: "Die Bayerische Staatsoper vor und nach 1945" - so lautet der Untertitel des Buches. Oft ist ja die Aufarbeitung von NS-Geschichte auf die Jahre 1933 bis 1945 beschränkt. Obwohl uns allen klar ist, dass die Nazi-Seilschaften natürlich auch in die Bundesrepublik Deutschland natürlich reingereicht haben. Wie lange und wie massiv war das denn an der Bayerischen Staatsoper der Fall?
Bildquelle: Bayerische Staatsoper / dpa Jürgen Schläder: Man muss sich zunächst einmal die Fragestellung vergegenwärtigen, die sozusagen zentral durch die Intendanz vorgegeben wurde. Es ging darum, die Kontinuitäten und die Brüche um 1945 vom Dritten Reich in die neue Bundesrepublik zu untersuchen. Und das ist eigentlich das Spannendste an der ganzen Geschichte: Was hat denn tatsächlich 1945 als so genannte "Stunde Null" an Neuerungen gebracht? Hier muss man sehr deutlich von 1963 - das Jahr der Wiedereröffnung des Nationaltheaters - auf 1933 zurückblicken und Kontinuitäten sowie Brüche oder Veränderungen in diesen drei Jahrzehnten unter die Lupe nehmen. Das ist der eigentliche Ansatz uns deswegen heißt das Buch auch so. Es beginnt 1963 beginnt und quasi 1967 wieder aufhört -nadem es die Schleife über 1933 gemacht habt ...
BR-KLASSIK: Nikolaus Bachler, der Intendant der Staatsoper, hat bei der Präsentation des Buches einen Satz gesagt: "Die Ideologie eines Hauses ermisst sich an der Ästhetik." Gemeint ist die Ästhetik der Produktionen. Was genau bedeutet das und warum war das so relevant für ihre Arbeit?
Jürgen Schläder: Der Begriff der Werktreue war ja in den 60er- und 70er-Jahren ein zentraler Begriff der Diskussion, wie man eigentlich Theater inszeniert. Ob man das also aus eigener Anschauung und Analyse als Regisseur und Produktionsteam machen kann oder ob man sich streng an die Vorgaben der jeweiligen Autoren halten muss. Zuvor hatten die Nationalsozialisten diese Werktreue für sich annektiert und daraus ein propagandistisches Programm für ihre gesamte Theaterpräsentation herausgearbeitet. Der entscheidende Regisseur für München war Rudolf Hartmann, der 1937 an die Staatsoper kam. Der "Ursprünglichkeitswert eines Werkes" war für ihn das wesentliche, was er auf die Bühne bringen wollte. Und genau das ist ja etwas, was dann in den 50er- und auch 60er-Jahren in Deutschland, aber auch in ganz Europa, wirklich über den Haufen geworfen wurde, weil es nun plötzlich neue interpretatorische Ansätze gab. Man kann allerdings insbesondere an der Bayerischen Staatsoper feststellen, dass nach 1947 gleichsam ein Schwenk zurück von dieser zeitgenössischen Interpretationsmöglichkeiten zurück zur Restauration der Stile aus den 30er-Jahren stattgefunden hat. Und das liegt ganz eindeutig in der Person von Rudolf Hartmann, der dort einen Opern Stil fortgeführt, verfeinert und wirklich bis zur glanzvollen Spitze getrieben hat.
Gab es eine Stunde Null?
BR-KLASSIK: Ihr Buch ist mit Doktoranden und Doktorandinnen vom Institut für Theaterwissenschaft entstanden. Im Einband steht aber auch: "In Zusammenarbeit mit zwei Dramaturgen der Bayerischen Staatsoper". Das Wort Zusammenarbeit auf diesem Feld ist ja oft nicht die Regel, oft kommt es da - vorsichtig ausgedrückt - zu Weigerungen und reservierter Haltung und man kämpft eigentlich eher gegen Widerstände. Wie lief denn diese Zusammenarbeit konkret in Ihrem Fall ab?
Jürgen Schläder: Völlig anders, weil schon die Aufgabenstellung eine andere war. Nikolaus Bachler hat ganz eindeutig als Programm vorgegeben: "Ich möchte gerne wissen, was da passiert ist. Es ist für meine gegenwärtige Positionsbestimmung und auch für die Zukunft natürlich sehr wichtig, dass wir wissen, was in der Vergangenheit stattgefunden hat. Damit man weiß, wie man wurde, was man heute ist." Der Titel des Buches ist ja nicht von ungefähr gewählt. Und das bedeutete, dass die Bayerische Staatsoper die Archive selbstverständlich geöffnet hat. Da gab es überhaupt keine Frage, dass die beiden Dramaturgen der Staatsoper diese Publikation begleitet haben und auch natürlich Korrektur gelesen haben - unter inhaltlichen wie auch formalen Gesichtspunkten. Natürlich haben diese beiden Dramaturgen mit uns auch über den einen oder anderen Punkt diskutiert, weil sie eine Präzisierung der Ergebnisse haben wollten. Und auch, um einfach Klarheit über folgende Punkte zu schaffen: Gab es eine Stunde null? Was hat sich wirklich verändert und wie schwerwiegend war der Einbruch in den Jahren zwischen 1933 und 1945 an der Bayerischen Staatsoper? Was ist dort alles geschehen? Das muss man heute wissen, damit man weiß, an welchem Institut damals im Dritten Reich Deutschland am meisten, am höchsten, am besten und am teuersten repräsentiert wurde. Das war der Wunsch Adolf Hitlers, den er dann auch umgesetzt hat. Wir haben von Seiten der Staatsoper ausschließlich eine Unterstützung auf ganzer Linie erfahren.