Karl Böhm war einer der wichtigsten Dirigenten des letzten Jahrhunderts. Umstritten war er auch – wegen seines Mitläufertums während der NS-Zeit. In seiner Heimatstadt Graz hat man ihm ein Theaterstück gewidmet, das 2018 uraufgeführt wurde. Paulus Hochgatterer ist der Autor, Nikolaus Habjan führt Regie. Auf der Bühne stehen ausschließlich Puppen. Ein fulminanter Theaterabend, der jetzt auch als Stream verfügbar ist.
Bildquelle: Lupi Spuma
Es gibt Theaterabende, die hauen einen einfach um. Da stimmt dann alles: Text, Timing, Bühne, Konzept. Paulus Hochgatters Stück "Böhm" am Schauspielhaus Graz war solch ein Ereignis, 2018 hatte es dort Premiere. Der Dirigent Karl Böhm wurde in Graz geboren und ist dort so berühmt, dass man nach seinen Spuren ziemlich mühselig suchen muss. Immerhin ist sein Geburtshaus mit einer Plakette versehen – gegenüber befindet sich ein Dönerladen. Büsten gibt es auch, hingegen versteckt sich Böhms unscheinbares Grab auf einem eher abgelegenen Friedhof. In der Tourismuszentrale hat man den Namen zwar gehört, kann ihn jedoch nicht zuordnen. Dabei handelt es sich zweifellos um einen der wichtigsten – und umstrittensten – Taktstockzauberer des letzten Jahrhunderts, nicht nur sein Bayreuther "Ring des Nibelungen" ist legendär.
"Böhm" am Schauspielhaus Graz, Szenenfoto mit Nikolaus Habjan im Hintergrund | Bildquelle: Lupi Spuma Nikolaus Habjan, von Hause aus genialer Puppenbauer und -spieler, zuletzt mehr und mehr auch als Regisseur tätig (an der Bayerischen Staatsoper inszenierte er 2017 Webers "Oberon"), hat Leben, Werk und Wirkung Karls Böhms als fulminanten Theatertrip mit 15 Puppen auf die Bühne gebracht. Ebenso wie Autor Hochgatterer betreibt auch Habjan ein Spiel auf und mit diversen Ebenen. Anfangs taucht ein alter, kranker Mann auf, es ist möglicherweise ein Doppelgänger Böhms, er verleugnet seine Identität vehement, vielleicht ist er aber einfach nur in seinen Gedankengebirgen verloren...
Rasch geht es durch erinnerte Zeiten und fantasierte Räume, eine Menge Sängerinnen und Sänger (Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Walter Berry) treten auf. Immer wieder kreist das Stück um einen zentralen Punkt, dem schwarzen Loch in Böhms Biographie: sein Mitläufertum in der NS-Zeit. Wo verläuft die Grenze zwischen Nicht-Wissen-Wollen und aktivem Ausblenden? Wird man schuldig, wenn man sich ganz auf seine Kunst konzentriert? Habjan spielt alle Puppen-Partien selbst und überragend brillant. Mit seiner genialen Co-Regisseurin Martina Gredler schafft er einen mal urkomischen (Böhm bei den Proben), mal verstörenden (Böhms Autismus und seine oft unangenehm ausgespielte Autorität) Trip durch ein ganzes Leben – und eine ganze Kulturepoche. Das Ergebnis ist epochal und vermittelt sich auch via Stream – besonders, wenn man zum virtuellen Erlebnis ein Glas gut gekühlten realen Veltliners bereithält.
Das Theaterstück "Böhm" ist auf der Homepage des Schauspielhauses Graz als Videosstream verfügbar.
Sendung: "Leporello" am 20. April 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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