Chen Reiss stammt aus einer jüdischen Familie und ist in Israel aufgewachsen. Am 19. Juli tritt die Sopranistin in München beim Festkonzert "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" auf, gemeinsam mit dem Jewish Chamber Orchestra unter der Leitung von Daniel Grossmann. Im Interview mit BR-KLASSIK spricht sie über den Nahostkonflikt, ihre jüdische Identität und die Frage, was eigentlich jüdische Musik ausmacht.
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Die Sopranistin Chen Reiss im Interview
"Der wachsende Judenhass bereitet mir große Sorgen"
BR-KLASSIK: Der jüdische Pianist Igor Levit hat sich von Twitter zurückgezogen, weil ihm und seinem jüdischen Freundeskreis dort zu viel antijüdischer Hass begegnet. In einem Interview von 2017 sagten Sie einmal, dass Sie in Ihrer Wahlheimat Wien keine antisemitischen Erfahrungen machen mussten. Wie ist das heute, vier Jahre später?
Chen Reiss: Ich mache mir wirklich große Sorgen um den Judenhass, der überall auf der Welt, aber besonders in Europa wächst und immer wieder aufblitzt. Mittlerweile bin ich in Österreich und in London Zuhause. Während des Krieges in Israel im Mai war es in London ganz schlimm. In unserer Nachbarschaft sind junge muslimische Leute mit Autos durch die Straßen gefahren und haben mit Mikrofonen geschrien: "Tod den Juden. Vergewaltigt ihre Töchter und Ehefrauen!" Das haben wir tatsächlich gehört, es war auch im englischen Fernsehen. Ich hatte Angst um mein Leben und dachte: Mein Gott, wo lebe ich?! Natürlich hat die Polizei reagiert. Aber dass Menschen in einem demokratischen europäischen Land so etwas tun, das finde ich wirklich unakzeptabel. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist sehr kompliziert, beide Seiten haben Schuld. Ich bin auch überzeugt, dass fast alle israelischen Staatsbürger und fast alle Staatsbürger aus palästinensischen Gebieten Frieden wollen. Es ist nur eine kleine Gruppe von Extremisten, die unser Leben ruiniert. Aber in Europa darf so etwas nicht passieren!
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Koexistenz zwischen jüdischen und arabischen Israelis gefährdet ist.
BR-KLASSIK: Sie haben gerade den Krieg vor zwei Monaten in Israel erwähnt, als dort im Mai der Nahostkonflikt wieder entfacht ist, Bomben fielen. Was macht das mit Ihnen, es ist ja Ihr Heimatland?
Chen Reiss beunruhigen die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. | Bildquelle: Paul Marc Mitchell Chen Reiss: Es tut mir wahnsinnig leid, dass es passiert ist und immer wieder passiert. Meine ganze Familie wohnt dort, das ist natürlich meine erste Sorge. Was wirklich sehr schlimm war: Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Koexistenz zwischen jüdischen und arabischen Israelis gefährdet ist. Ich rede nicht mal von Palästina und Israel. Innerhalb von Israel gab es so viel Spannung und Chaos und Hass, das hat mich deprimiert. Ich dachte, wir seien schon weiter mit der Koexistenz. Wir sollten jetzt so schnell wie möglich wieder Vertrauen aufbauen, einen Dialog beginnen innerhalb von Israel. Da bin ich sehr engagiert.
BR-KLASSIK: Sie haben vor ein paar Jahren in Österreich eine Stiftung gegründet, "Freunde des Israel Philharmonic Orchestra." Was möchten Sie damit erreichen?
Chen Reiss: Wir sammeln Spenden für musikalische Ausbildungsprogramme jüdischer und arabischer Kinder. Indem sie gemeinsam musizieren, wollen wir beide Seiten zusammenbringen. Die Musiker des Israel Philharmonic Orchestra besuchen Schulen in bestimmten Teilen Israels, wo Juden und Araber zusammenleben und wo es sich die Eltern der Kinder nicht leisten können, Instrumente für die Kinder zu kaufen und Musikunterricht zu bezahlen. Ich finde, wir müssen den arabischen, israelischen und palästinensischen Kindern eine positive Beschäftigung geben. Ich kenne das von meinen Kindern: Wenn sie sich langweilen, streiten sie. Aber wenn sie beschäftigt sind, dann spielen sie schön miteinander.
BR-KLASSIK: In diesem Jahr feiern wir "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Sie stammen aus einer jüdischen Familie, sind in Israel aufgewachsen. Was bedeutet "jüdisches Leben" bei Ihnen im Privaten?
Auch wenn sie nicht religiös ist: Chen Reiss fühlt sich der jüdischen Kultur sehr verbunden. | Bildquelle: Paul Marc Mitchell Chen Reiss: Natürlich haben wir eine Chanukkia, wenn wir Chanukka feiern oder Kerzenhalter für Schabbat. Vor allem, seit wir Kinder haben, feiern wir diese Feste. Ich bin aber nicht religiös und auch nicht religiös aufgewachsen. Als Kind war ich kaum in der Synagoge, höchstens, als mein Bruder Bar Mizwa gefeiert hat. Aber ich fühle mich sehr verbunden mit einer ganz alten Tradition und einer Kultur, die schon mehr als 5000 Jahre alt ist. Wir waren 2000 Jahre lang im Exil und auf der ganzen Welt verstreut, in mehr als hundert Ländern. Die Juden haben verschiedene Sprachen gesprochen, verschiedene Berufe ausgeübt. Juden in Deutschland hatten einen ganz anderen Lebensstil als zum Beispiel Juden im Irak. Sie hatten nur eine Sache gemeinsam: das Alte Testament. An Feiertagen wie Jom Kippur haben alle Juden in der Synagoge auf der ganzen Welt den gleichen Text gesprochen. Das hat uns als jüdisches Volk getragen. Ich fühle mich sehr zugehörig zu meinem Volk.
Ich fühle mich sehr verbunden mit einer ganz alten Tradition und einer Kultur, die schon mehr als 5000 Jahre alt ist.
BR-KLASSIK: Am 19. Juli werden Sie in der Philharmonie im Münchner Gasteig Lieder von Fanny Hensel singen, die aus einer jüdischen Familie stammte. Gibt es für Sie jüdische Elemente in der Musik von Fanny Hensel?
Chen Reiss: Nein, ich höre nichts Jüdisches in der Musik von Fanny oder ihrem Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy. Beide waren sehr verbunden mit der deutschen Kultur, sie sind romantische deutsche Komponisten. Die Frage ist ja: Was ist jüdische Musik? Eine Musik, die von Juden komponiert ist oder eine Musik, die nur für Juden komponiert ist oder eine Musik mit jüdischen Themen? Da können wir lange diskutieren. Weil die Juden überall auf der Welt lebten, hat sich keine lineare Musiktradition entwickelt. Erst im 18. und 19. Jahrhundert entsteht eine klassische jüdische Musik. Aber auch sie klang in Deutschland anders als in Rumänien oder Ungarn. Und dann gibt es Komponisten wie etwa Dmitri Schostakowitsch: Er war kein Jude aber seine Musik ist beispielsweise beeinflusst von jüdischen Tonarten.
BR-KLASSIK: Noch mal zurück zu Fanny Hensel: Hinter Ihrem Konzertauftritt steckt ja ein größeres Projekt ...
Chen Reiss hat gerade eine CD mit Werken von Fanny Hensel aufgenommen, die im Februar 2022 erscheinen wird. | Bildquelle: Paul Marc Mitchell Im Februar 2022 bringen wir eine CD heraus, die Fanny Hensel gewidmet ist. Es ist Zeit, dass diese wunderbare Komponistin eine Hommage-CD mit ihrer orchestralen Musik bekommt! Im Konzert präsentieren wir unter anderem eine Dramatische Szene von Fanny, die selten gespielt wird: "Hero und Leander". Als ich das Werk zum ersten Mal mit dem Orchester gehört habe, dachte ich: Es klingt sehr dramatisch und hat an einigen Stellen Ähnlichkeit zu Richard Wagners Musik. Fanny Hensel ist eine deutsche romantische Komponistin. Ihre Sprache ist sehr poetisch, es gibt sehr viel Zärtlichkeit und Wärme in ihrer Musik. Wenn sie ein Mann wäre, würde sie in der ersten Reihe von romantischen deutschen Komponisten stehen, davon bin ich überzeugt. Sie ist meiner Meinung nach genauso gut wie Johannes Brahms oder Felix Mendelssohn oder Robert Schumann.
Wenn Fanny Hensel ein Mann wäre, würde sie in der ersten Reihe von romantischen deutschen Komponisten stehen.
BR-KLASSIK: Fanny Hensel vereint ja in der Klassik gleich zwei Minderheiten in sich: die jüdische Kultur und das Frausein, genau wie Sie, Frau Reiss. Kämpfen Sie dafür, Minderheiten sichtbar und hörbar zu machen, indem Sie solche Engagements wie in München annehmen oder gezielt CD-Aufnahmen machen?
Chen Reiss: Zum Glück sind wir Frauen in unserer Gesellschaft so weit gekommen, dass wir nicht mehr kämpfen müssen. Wir sollen einfach da sein, mit unseren Fähigkeiten, unserem Talent und unserem Charme werden wir gewinnen (lacht). Es ist sehr wichtig, dass mehr Frauen in der Politik vertreten sind. In Deutschland sind Sie da schon sehr entwickelt. Ich freue mich sehr, dass wir in der neuen israelischen Regierung sehr viele Frauen haben.
Sendung: "Allegro" am 19. Juli 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Sonntag, 18.Juli, 08:24 Uhr
Giorgio Baumgartner
Ueber die Zusammenleben zwischen Israelis und Palaestinensern zu sprechen, ohne zuvor di Gleichberechtigung alle Bewohner der Region zu erreichen, bedeutet nur eine einfache Bekenntnis zum Guten Willen