Seit Beginn der Pandemie steht das Chorsingen unter Verdacht: Die Infektionsgefahr soll hier besonders hoch sein. Bei einigen Chören, die zu Beginn der Coronakrise noch probten, kam es zu regelrechten Masseninfektionen. Seit Monaten wird dazu geforscht. Und das auch im BR-Funkhaus. Zusammen mit Mitgliedern des BR-Chores untersuchten dort Wissenschaftler in den letzten Wochen die Ausbreitung von Aerosolen beim Singen. Erste Zwischenergebnisse liegen nun vor.
Bildquelle: BR/Gut zu wissen
Aus der Sendung "Gut zu wissen" (BR Fernsehen, 4. Juli 2020)
Sicher Singen trotz Corona
Seit dem 22. Juni sind Chorproben in Bayern wieder erlaubt. Natürlich nur unter strengen Hygieneauflagen. Dazu zählen etwa regelmäßiges Lüften und ein Abstand von mindestens zwei Metern zwischen Sängerinnen und Sängern. In seinen Empfehlungen konnte sich das Bayerische Kunst-Ministerium bereits auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. So hatte eine Studie der Bundeswehr-Universität in München schon im Mai gezeigt, dass beim Singen nur im Bereich von etwa einem halben Meter Luftturbulenzen entstehen. Die These des Studienleiters damals: Die Infektionsgefahr beim Singen sei nicht wesentlich größer als beim Sprechen.
Ein so erleichterndes wie verwirrendes Ergebnis. Denn einerseits blieben damit die Fälle von Masseninfektionen bei Chorproben unerklärt. Zum anderen schienen diese Erkenntnisse den Vorgaben der Berufsgenossenschaft zu widersprechen, die - restriktiver noch als die Bayerische Staatsregierung - Abstände von bis zu sechs Metern zwischen Sängerinnen und Sängern einfordert.
Hierzu ist in Singrichtung ein Abstand von mindestens 6 m und seitlich von mindestens 3 m einzuhalten.
Mehr Klarheit bringt nun eine Studie der LMU München und der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. In einer Reihe von Experimenten haben der Stimmarzt Matthias Echternach und der Strömungsmechaniker Stefan Kniesburges versucht, die Ausbreitung von Aerosolen beim Singen direkt sichtbar zu machen.
Kurz: Atemnebel mit Tröpfchen. Die Langfassung: Aerosole sind winzigste Speicheltröpfchen, die kleiner als fünf Mikrometer sind. Sie gelangen beim Ausatmen in die Luft und können dort für eine gewisse Zeit schweben.
Unterstützt wurden sie dabei von Sängerinnen und Sängern des BR-Chores. Von den Studienergebnissen versprechen diese sich ein positives Signal in Richtung baldiger Konzerte. Oder besser gesagt: erhoffen – wie die Altistin Kerstin Rosenfeldt: "Natürlich würde ich mir wünschen, dass was Gutes dabei rauskommt, dass wir bald wieder singen dürfen. Aber mir ist auch klar, dass beim Singen, beim Sprechen Aerosolwolken entstehen. Und ich finde es wichtig, dass es jetzt mal wissenschaftlich untersucht wird."
Neben den berüchtigten Aerosolwolken haben Echternach und Kniesburges auch die Ausbreitung eines weiteren potentiellen Überträgers untersucht: größere Spucketröpfchen wie sie etwa beim Sprechen entstehen. Im Laserlicht wurde die Streuung dieser Tröpfchen sichtbar gemacht und via Highspeed-Kamera aufgezeichnet. So konnten die Forscher analysieren, bei welchen Sprech- oder Gesangspassagen die größte Menge an Tröpfchen gebildet wird. Kniesburges‘ Fazit: "Bei den Vokalen haben wir kaum Tröpfchen sehen können, die da wirklich gebildet werden und herausgeschleudert werden, vereinzelt schon, aber in einer deutlich, deutlich geringeren Anzahl im Gegensatz zu den Konsonanten."
Um die sehr viel kleineren Partikel sichtbar zu machen, aus denen die Aerosolwolken bestehen, mussten die Wissenschaftler auf einen anderen Trick zurückgreifen: Rauchen. Zur Abwechslung mal im Dienste der Wissenschaft. Verwendet wurde dafür eine unbedenkliche Trägerlösung von E-Zigaretten. Erst inhalieren, dann singen, lautete die Anweisung an die Sängerinnen und Sänger. Die dabei entstehenden Nebelwolken wurden dann vermessen.
Bis zu 1,5 Meter verteilen sich die Aerosolnebel im Raum. Um sie zu entfernen, hilft nur: Lüften! | Bildquelle: BR Das Ergebnis überraschte sogar die Forscher: Bis zu eineinhalb Meter breiten sich die eingeatmeten Gase im Raum aus. Wesentlich weiter also, als der Studie der Bundeswehr-Universität zufolge, die nur die Strömungsgeschwindigkeit der Gase gemessen hatte. Was außerdem sichtbar wird: Nicht nur nach vorne, auch nach den Seiten verteilt sich der Rauch – wenn auch nicht so weit. Matthias Echternach leitet daraus die Empfehlung ab, "dass nach vorne, und bei guter Durchlüftung, ein Abstand von zwei Metern nötig ist. Eher sogar 2,5 Meter. Und zur Seite wahrscheinlich 1,5 Meter. Wenn dagegen keine gute Durchlüftung gegeben ist, muss zum einen der Raum sehr groß sein. Und auch die Abstände müssen größer werden."
Entwarnung klingt anders. Abstand halten und Lüften – das sind auch dieser Studie zufolge die zwei wichtigsten Instrumente im Kampf gegen Corona. Masken helfen dagegen nur bedingt. Zwar halten sie die Ausbreitung der größeren Tröpfchen auf, nicht aber den Aerosolnebel. Der quillt an den Rändern der Maske ins Freie. Auch das konnten die Forscher beobachten. Fazit: Die bestehenden Abstandsregeln des Kunst-Ministeriums sind sicher nicht zu großzügig bemessen.
Trotz dieser alles in allem eher ernüchternden Erkenntnisse – Susanne Vongries, Managerin des BR-Chores, kann der Untersuchung auch etwas Positives abgewinnen: "Die Studie gibt uns mehr Klarheit, um Abstandsregeln und Klimaverhältnisse in Räumen besser einschätzen zu können. Und wir möchten unsere Erkenntnisse allen zur Verfügung stellen. Die Ergebnisse werden und sollen nicht nur dem BR-Chor hilfreich sein. Bei Profichören im Konzert- und Opernbereich sowie im Laienchorsingen besteht weltweit ein großer Wissens- und Erkenntnishunger auf diesem Gebiet."
Diesen Erkenntnishunger dürfte jedoch auch die neue Studie noch nicht gänzlich gestillt haben. Sie ist lediglich ein Puzzleteil, um die Infektionsgefahr beim Chorsingen besser einschätzen zu können. Echternach und Kniesburges konzentrieren sich auf die Ausbreitung der Aerosole vom Mund in den Raum. Nicht untersucht wurde zum Beispiel, wie viel Aerosol beim Singen gebildet wird. Oder in welchen Konzentrationen sich Aerosolwolken in gelüfteten und ungelüfteten Räumen ansammeln. Und auch nicht, inwieweit das tiefe Luftholen beim Singen die Wahrscheinlichkeit erhöht sich anzustecken. Klärungsbedarf besteht hier also nach wie vor.
Sendung: Leporello am 3. Juli 2020 um 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (7)
Donnerstag, 09.Juli, 09:28 Uhr
Wagner Bettina
Rauchen verbieten
Wenn das Rauchen so gefährlich ist, warum verbietet man es nicht ganz und gar in der Öffentlichkeit, auch im Freien? Sicher werden auch mit dem Rauch Corona-Viren transportiert, und als Passivraucher hat man keine Möglichkeit, dem zu entgehen.
Und was ist das Unappetitliche anbelangt: wo Menschen zusammenkommen, entstehen nun einmal Ausdünstungen, ob aus dem Mund oder anderen Körperöffnungen. Das wird sich nie ganz verhindern lassen. Über das Risiko sollten sich alle im Klaren sein und selbst entscheiden, ob sie es in Kauf nehmen wollen. Verbote helfen hier meines Erachtens wenig.
Dienstag, 07.Juli, 11:53 Uhr
Gebhardt, Bettina
Singen: Aerosolverteilung: Rauch als Hilfsmittel
Wenn Rauch als Hilfsmittel für eine Studie zur Aerosol-Verteilung beim Singen eingesetzt wird, gilt zu bedenken, daß weitere Beeinflussungen der Rauchbewegung eine Rolle spielen, und zwar Raumtemeratur und Luftströme.
Grundsätzlich sind jedoch Aerosole und Rauchpartikel (als Substanzen) ganz unterschiedlich in der Struktur: Rauch besteht aus größeren und evtl. auch leichteren Feinpartikeln. Er ist eine Art Feinstaub. Aerosole können verdunsten.
Rauch hat seine eigene Bewgungsdynamik - auch ohne den Luftstrom aus menschlicher Lunge! Zündet man ein Räucherstäbchen an, so ist binnen kurzer Zeit der ganze Raum mit Duftmolekülen (Partikeln?) gefüllt -auch o h n e Beisein von Aerosolpartikeln!!!
Dienstag, 07.Juli, 10:55 Uhr
Wolfgang Krahn
Speiche und Aerosole beim Singen und beim Sprechen
Ein interessanter Beitrag, der meine Erfahrungen, deckt.
Ich habe an verschiedenen Theatern und Opernhäuser, wie auch bei der Bayerischen Staatsoper, gearbeitet. Ohne großartigen Versuchsaufbau, kann ich das alles bestätigen.
Bei Proben und Vorstellungen, kann die Ausbreitung der Speicheltröpfchen, empirisch gut beobachtet werden. Im Licht der Scheinwerferkegel kann man das alles, von der Bühne oder aus der "Gasse" heraus, sehr deutlich, sehen. Der Partner wird bei beim Singen im Duett oder je nach Position zueinander, auch beim Sprechen, in einen "Regen" von Speicheltröpfchen eingehüllt. Die Akteure bekommen das nicht immer mit. Und nach der Vorstellung wird mit Abschminke ohnehin alles beseitigt. Unappetitlich ist es allemal...
Montag, 06.Juli, 23:18 Uhr
Raaja Fischer
Aerosoluntersuchung der Medizinischen Univers Wien
Die Aerosoluntersuchungen der Medizinischen Universität Wien im Auftrag des österreichischen Chorverbandes kamen zu etwas anderen Ergebnissen. Sie wurden auch nicht mit Zigarettenrauch durchgeführt, der sich meiner Ansicht nach anders verhält als Aerosole. Ich nehme an, der verbreitet sich viel weiter und bleibt länger in der Luft erhalten. Ich verstehe nicht, warum dieses Medium Rauch dafür benutzt wurde, das konnte doch eigentlich nur ein solch ungünstiges Ergebnis erzielen. Ich schicke Ihnen gerne das PDF mit den wissenschaftlich erstellten Ergebnissen der Medizinischen Universität Wien zu. Sie können sie aber auch auf der Internetseite des Chorverbandes Österreich finden: https://www.chorverband.at
Mit freundlichen Grüßen
Raaja Fischer
Chorleiter
Montag, 06.Juli, 00:45 Uhr
Zita M.
Singen im Chor fehlt mir am meisten
Von allen neuen Umständen durch die CoViD19-Gefahr hat mir nur das fehlende Singen im Chor richtig zu schaffen gemacht.
Ich wünsche mir erschwingliche professionelle Aufnahmen von Chorsätzen, bei denen immer eine Stimme fehlt, die man selber dann dazu singen kann zu Hause vorm Radio.
Ach ja und danke für die aufschlussreiche Forschung und den ebensolchen Bericht darüber!
Samstag, 04.Juli, 13:33 Uhr
Knut auf der Hut
Endlich mal ein nüchterner und realistischer Beitrag, der sich wohltuend abhebt vom feuilletonistischen Lobbyismus à la „Wenn 22 Menschen draußen Fußball spielen dürfen, dann muss es auch erlaubt sein, dass 80 Leute drinnen singen!“ So einfach ist es eben nicht...
Freitag, 03.Juli, 21:26 Uhr
Michael Geier
Chorsingen unter Coronabedingungen
Egal, in welche Richtung ich überlege, die Aussagen von Professor Echternach bedeuten, dass Chorsingen nur noch im Sommerhalbjahr und mit max. 30 Sängerinnen und Sängern, eher weniger, stattfindet und auch dann unter musikalisch suboptimalen und menschlich unbefriedigenden Bedingungen. Da geht es um Sein oder Nichtsein des Laien-Chorsingens überhaupt. Kerstin Rosenfeldt meinte, sie würde sich dann eine andere Beschäftigung suchen. Sieht so aus, als könnte das wahr werden. Mal sehen, wo wir in einem Jahr stehen.