Gerade findet ein Wettlauf der Lockerungen statt – fast so als wäre die Corona-Pandemie schon vorbei. Bundesliga, Restaurants, Kitas: Für viele Bereiche werden Daten und Auflagen genannt. Im Kulturbereich allerdings: nichts Konkretes. Offenbar muss hier lauter getrommelt werden.
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Im Vogelnest, eng aneinandergedrängt hocken die ausgehungerten Vogelkinder. Da naht die Vogelmama – und mit ihr die Erleichterung: immerhin ein kleiner Wurm. Alle reißen ihre Schnäbel auf und schreien aus voller Kehle: "Hier, hier, gib mir, gib mir!" Und wie das so ist bei einer Horde Kinder: Jedes ist anders. Das eine versteht sich gut aufs Einschmeicheln, das andere sieht so erbärmlich verhungert und zerrupft aus, dass man einfach Mitleid haben muss – und dann ist da noch das Kreative, ein bisschen verpeilt und verträumt, aber sympathisch. Wer bekommt den Wurm?
Was war das für ein Geschrei in den vergangenen Wochen. Alle wollten die Fesseln der Corona-Maßnahmen ablegen. Nachvollziehbar: Es stehen Existenzen auf dem Spiel. Und das überall, egal in welcher Branche. Denn das hat Corona geschafft: Es hat uns unsere Gleichheit als Menschen gezeigt. Solidarität war noch im März das Stichwort der Stunde, nur wenige einzelne unkten, stattdessen haben wir es geschafft und die Kurve gemeinsam flacher gemacht. Darauf können wir alle richtig stolz sein. Aber wo ist die Gleichheit hin? Kaum haben wir den Schock der Bilder aus Bergamo und New York einigermaßen verdaut, geht es plötzlich nicht mehr um Alle, sondern um Einzelne. Die Bundesliga! Die Schulen und Kitas! Die Autobranche! Restaurants, Hotels, Tourismus! Also: Stress für die Vogeleltern, sprich: für Kanzlerin und Ministerpräsidenten.
Moment mal. Eigentlich sind sie das doch gewohnt, unsere Politikerinnen und Politiker. Ist ja gar nicht Ausnahmezustand, ist ja normal, gibt ja sogar ein Wort fürs Vogelgeschrei: Lobbyismus. Und wer sitzt da im Nest und träumt vor sich hin statt den Schnabel aufzusperren? Genau: die Kultur. Weil sie keine so professionelle und gut organisierte Lobby hat wie die Bundesliga oder die Autobranche. Weil sie nicht als bedeutender Wirtschaftszweig gilt wie Gastronomie und Tourismus. Weil sie ihre Notlage nicht annähernd so klarmachen konnte wie die Familien und Alleinerziehenden.
BR-KLASSIK-Autorin Kathrin Hasselbeck | Bildquelle: © BR/Markus Konvalin Dabei hätten die Künstlerinnen, Intendanten, Veranstalterinnen und Agenten doch genau das, was in Corona-Zeiten besonders wertvoll ist: Kreativität, Schaffensdrang, Flexibilität. Christian Stückl, der Intendant vom Münchner Volkstheater, setzt kurzerhand fünf Neuinszenierungen auf den Spielplan, die alle Abstandsregeln berücksichtigen. Die Bayerische Staatsoper bringt in ihren gestreamten Montagskonzerten ein hochwertiges Kammermusikprogramm in die Wohnzimmer. Und für den Sommer darf man auf Freiluft-Veranstaltungen hoffen, denn die bergen – bei Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln – am wenigsten Ansteckungsgefahr. Was aber nach wie vor fehlt: klare Vorgaben, Auflagen, Richtlinien von der Politik. Und damit das Wichtigste: Perspektive.
Wäre es also wünschenswert, wir würden schon zum 15. Mai mit dem Kulturleben in eine neue Corona-Normalität starten? Also dann, wenn auch der Ball bei den Bundesliga-Geisterspielen wieder rollt? Ist es wirklich das, was uns der gesunde – und gesund bleiben wollende – Menschenverstand rät? Mir kommt diese Bundesliga-Entscheidung anmaßend vor. Genau wie es das Geld für die Automobilbranche ohne Auflagen für Manager- und Aktionärs-Boni wäre.
Die Kultur aber braucht endlich eine Lobby, die gut organisiert ist, professionell für ihre Interessen eintritt, Perspektive schafft, dabei aber solidarisch bleibt. Ein Widerspruch in sich? Liebe Vogeleltern, da kommt ihr ins Spiel: Kommt eurer Verantwortung nach und sorgt für Gerechtigkeit! Nicht immer ist das am lautesten schreiende Kind das mit dem größten Bedarf.
Sendung: "Leporello" am 7. Mai 2020 um 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Donnerstag, 07.Mai, 22:57 Uhr
Franz Welmank
WER AM LAUTESTEN SCHREIT
Sehr geehrte Frau Hasselbeck,
angesichts der ungelösten, gesundheitlichen Gefährdungen - die hier in einem NDR-Beitrag z.B. für das Chorsingen aufgegriffen werden - finde ich es keineswegs angebracht, laut nach Lockerungen für die Kultur zu schreien:
https://www.ndr.de/kultur/musik/Wie-riskant-ist-Chorsingen-in-Zeiten-von-Corona,coronasingen100.html
Auch die Orchester dürften noch keinen Impfstoff im Dienstschrank haben, der sie vor dem Virus definitiv schützt. Wenn Sie sich über das erhöhte Infektionsrisiko durch den kondensierenden Atem in jedem Blasinstrument z.B bei einer aktuellen Untersuchung der Charite informieren, müssen Sie ihre Forderung vielleicht noch einmal überdenken.
https://www.konzerthaus.de/media/filer_public/07/c1/07c103ca-b01b-47b3-8663-4cb48db9503e/stellungnahme_spielbetrieb_orchester.pdf
Mit freundlichen Grüßen - F. Welmank
Kathrin Hasselbeck: Lieber Herr Welmank, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich verstehe, was Sie meinen, und bin absolut der Meinung, dass wir die Zahlen der Wissenschaftler nicht aus den Augen verlieren dürfen. In meinem Kommentar geht es mir um den gerechten - und auch im Corona-Sinne solidarischen - Umgang mit den Lockerungen. Und darum, dass ich mir für die Kultur - in der ebenso Existenzen bedroht sind - eine professionelle Lobbyarbeit wünsche, aber eben eine, die achtsam arbeitet, was hoffentlich kein Widerspruch in sich ist. Freundliche Grüße zurück, K. Hasselbeck