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Lothar Zagrosek war ein Regensburger Domspatz "Das Schlimmste war die Hilflosigkeit"

Mindestens 231 Fälle körperlicher Misshandlungen habe es bei den Regensburger Domspatzen gegeben, so der mit der Aufklärung betraute Rechtsanwalt Ulrich Weber. Erstmals äußert sich nun auch ein großer Name der Musikwelt als Betroffener: der Dirigent Lothar Zagrosek.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

"Wirklich brutale Gewalt."

"Wir wurden einmal von unseren Eltern gebadet. Auf einmal schreit die Frau, die uns betreut hat, auf und sagt: Frau Zagrosek, schauen Sie sich mal ihre Kinder an. Meine Mutter hat dann festgestellt, dass sowohl auf meinem, als auch auf dem Rücken meines Zwillingsbruders eine Menge blauer Striemen waren, so als ob man jemanden auspeitscht. Das war bei uns weitgehend Alltag."

An die Reaktion seiner Mutter kann sich der heute 73-jährige Lothar Zagrosek nicht mehr deutlich erinnern, er war damals zehn Jahre alt. Allerdings weiß er, dass die Führung des Internats sehr doppelgesichtig verfahren sei, so der Dirigent. Die Eltern konnten sich deshalb nicht vorstellen, dass Gewalt ausgeübt wurde, wie sie Lothar Zagrosek schildert.

"Man musste eine Putzfrau rufen, um das Blut aufzuwischen."

"Mein kleinerer Bruder Johannes hatte einmal während einer Messe nicht sofort mitgesungen, weil er das Kirchenlied im Liederbuch nicht gleich gefunden hatte. Daraufhin wurde er noch während der 'heiligen' Messe herausgerufen und in der Bibliothek so geschlagen, dass man eine Putzfrau rufen musste, um das Blut aufzuwischen. Sein Ohrläppchen war eingerissen."

  Lothar Zagrosek | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bildquelle: picture-alliance/dpa Lothar Zagrosek besuchte mit seinem Zwillingsbruder Eberhard und seinem drei Jahre jüngeren Bruder Johannes von 1952 bis 1959 die Internate der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen und in Regensburg. Jetzt hat der Dirigent die Enthüllungen um den Missbrauchsskandal bei den Domspatzen in vollem Umfang bestätigt. Es ist Lothar Zagrosek offenbar ein Bedürfnis, zur Aufklärung beizutragen.

Ein Knabe wurde immer wieder wegen absoluter Nichtigkeiten gestraft.
Lothar Zagrosek

"Bei uns wurde er wieder straffällig."

"Der Internatsdirektor war der Priester Zeitler. Er war schon einmal in einem anderen Knabeninternat sexuell tätig gewesen. Dennoch wurde er vom bischöflichen Ordinariat zu den Regensburger Domspatzen als Internatsleiter versetzt. Bei uns wurde er wieder straffällig, was ihm eine Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus eintrug. Ein Dutzend seiner Opfer flog dann vom Gymnasium. Sie mußten nämlich plötzlich alle Schulprüfungen ohne die 'Hilfe' des Herrn Zeitler bewältigen, der ihnen bis dato den Stoff immer vorher mitgeteilt und damit zu mühelos erworbenen guten Noten verholfen hatte. Ihr späteres Schulversagen führte zum Abbruch ihrer schulischen Ausbildung."

Die Regensburger Domspatzen in der St. Josephskirche in Frankfurt am Main 1946.  | Bildquelle: picture-alliance/dpa Die Regensburger Domspatzen unter Theodor Schrems bei einem Auftritt in Frankfurt, 1946 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Alle diese von ihm geschilderten Vorfälle hätten, wie Zagrosek sagt, in der Ära des "legendären" Domkapellmeisters Theobald Schrems stattgefunden. Der Priester, Domkapellmeister und Mitbegründer des Musikgymnasiums der Regensburger Domspatzen stand Adolf Hitler nahe und ließ die Domspatzen mehrfach auf dem Obersalzberg singen. Von Hitler wurde ihm zum "Führergeburtstag" 1937 außerdem ein Professorentitel verliehen. Nach dem Krieg erhielt er unter anderem den Bayerischen Verdienstorden, auch eine Straße in Regensburg und eine Grundschule in seinem Geburtsort Mitterteich sind nach ihm benannt. Bis 1958 leitete Schrems die Internate in Etterzhausen und Regensburg. Er starb 1963 ebenda.

"Ich möchte zwei merkwürdige Todesfälle erwähnen."

"Die von mir geschilderten Vorfälle fanden allesamt in der 'legendären' Ära des Domkapellmeisters Theobald Schrems statt. Zum Schluss möchte ich noch zwei merkwürdige Todesfälle erwähnen: Ein Knabe aus meiner Klasse - einziger Sohn einer Kriegerwitwe - wurde von Schrems immer wieder bei den Chorproben wegen absoluter Nichtigkeiten gestraft. Er wurde immer stiller, immer mehr in sich gekehrt. An seinem 18. Geburtstag ging er in die Berge und kam nicht mehr zurück. Schrems hatte einen Verwandten namens Hans Schrems. Der war Stimmbildner. Als er bei der Nachfolge von Theobald Schrems übergangen wurde, stürzte er sich eines Tages in die Donau. Das nur zum Thema Klima im Internat."

Viele hat diese 'Erziehung' gebrochen.
Lothar Zagrosek

Trotz allem ziehe Lothar Zagrosek für sich persönlich ein positives Fazit. Bei einer Aufführung der "Zauberflöte" in Salzburg konnte er dem Dirigenten Georg Solti über die Schulter schauen, das habe ihn sehr geprägt. Außerdem hat er den Bühnenbildner Oscar Kokoschka kennengelernt. Sein Leben als Musiker begann mit dem Auftritt als Erster Knabe in Mozarts "Zauberflöte". Lothar Zagrosek: "Für mich war damit auch ein Blick auf eine Lebensperspektive gegeben, die ich dann anstrebte."

"Ich habe niemanden 'über' mir."

"Das Schlimmste aber war die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein und die totale Schutzlosigkeit in einem Alter, in dem man eigentlich Zuwendung braucht. Die Eltern waren weit weg. Nach Hause kam man nur zu Weihnachten, Ostern und in den Sommerferien. Viele hat diese 'Erziehung' gebrochen. In mir hat sie Rebellion gegen jede ungerechte Behandlung und den unbedingten Willen, ein niemals und von niemandem bestimmtes Leben zu führen, ausgelöst. Heute bin ich Dirigent und habe niemanden 'über' mir, der mich fremdbestimmen könnte, wenn ich es nicht möchte."

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