Während die Orchester des weltweit renommierten Musikprojektes "El Sistema" weiter durch die Welt touren, droht in ihrer Heimat Venezuela der Zusammenbruch. Lebensmittelknappheit, Korruption und Kriminalität prägen den Alltag. Wie trotzdem noch weiter musiziert werden kann? BR-KLASSIK-Autorin Rebecca Friedman hat die venezolanischen Jugendorchester schon als Austauschschülerin kennengelernt und ist jetzt wieder in das Land gereist.
Bildquelle: © imago/Xinhua
Mit 16 Jahren wollte ich die Welt kennenlernen. Als Austauschschülerin bin ich damals im südamerikanischen Venezuela gelandet - ein tropisches Paradies, das über die letzten Jahre durch Misswirtschaft und Korruption der sozialistischen Regierung langsam in eine tiefe Krise gerutscht ist.
BR-KLASSIK Autorin Rebecca Friedman mit venezolanischer Musikerin. | Bildquelle: privat Jetzt, 14 Jahre später, bin ich zurückgefahren, habe meine Gastfamilie und Freunde besucht - und "mein" Orchester, das Orquesta Sinfónica de Ciudad Guayana. Als Geigenschülerin habe ich dort im Schüleraustausch meine Nachmittage und Abende beim Proben verbracht. In sengender Hitze haben wir Symphonien von Tschaikowsky und Beethoven eingeübt, um sie für Eltern und neu gewonnene Klassikfans zum Besten zu geben. Dass dieses Orchester ein Teil von dem großen sozialen Projekt "El Sistema" ist, habe ich erst realisiert, als ich besser Spanisch konnte - und als die verschiedenen professionellen Jugendorchester aus Caracas unter dem Markennamen "El Sistema" anfingen, auf internationale Tourneen zu gehen.
Das Schönste ist, dass hier alle gleich sind
Die Idee des Gründers José Antonio Abreu ist faszinierend: Kinder aus allen sozialen Schichten durch Musikunterricht zu toleranten und pflichtbewussten Menschen zu machen und ihnen den Weg zur klassischen Musik zu öffnen - zu einer Welt, die vorher nur für Ausländer und die Elite zugänglich war. "So wie das Kind vom Gouverneur bei uns ist, sind auch die Kinder der Putzfrau bei uns", sagt Chorleiterin Iraida Pineda und fügt hinzu: "Und das Schönste ist, dass sie hier alle gleich sind, weil wir sie alle gleich behandeln."
1/11
Üben in der Tiefgarage des “Centro de la Acción Social por la Música“ in Caracas. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
2/11
Alte Lagerhalle der Regierung, die nun als Musikzentrum von Ciudad Guayana dient. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
3/11
Warten auf den Musikunterricht im Eingangsbereich des Musikzentrums von Ciudad Guayana. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
4/11
Übungsstunde im offenen Durchgang, Ciudad Guayana. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
5/11
Auf dem Weg zur Orchesterprobe, Ciudad Guayana. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
6/11
Stimmproben in der großen Halle, Ciudad Guayana. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
7/11
Konzert des Hochschulorchesters im Saal „Simón Bolívar“ in Caracas. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
8/11
“Centro de la Acción Social por la Música”, Hauptsitz von “El Sistema” in Caracas. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
9/11
Das “Orquesta de Rock Sinfónico” bei einer Probe in Caracas. | Bildquelle: © Rebecca Friedman
10/11
Dirigent Gustavo Dudamel | Bildquelle: © dpa
11/11
Gustavo Dudamel dirigiert Orchester und Chor von „El Sistema“ in nationalen Farben. | Bildquelle: © dpa
Seit der ersten Orchesterprobe, die vor 41 Jahren in einer Tiefgarage in der Hauptstadt Caracas stattfand, ist viel passiert: Gustavo Dudamel ist zu einem der gefragtesten Dirigenten in der klassischen Musikwelt geworden. Neben "seinem" Symphony Orchestra Simón Bolívar werden auch die Jugendorchester, die später entstanden, mittlerweile international gefeiert - etwa das Youth Orchestra Teresa Carreño und das Youth Orchestra of Caracas.
In den letzten Jahren sind aber auch immer wieder kritische Stimmen laut geworden - besonders über die Nähe zur sozialistischen Regierung, die nur noch auf dem Papier eine Demokratie ist und vor Menschenrechtsverletzungen nicht zurückschreckt. Der soziale Aspekt von "El Sistema" entspricht ihren vorgegebenen Idealen. Einerseits fördert die Regierung das Projekt finanziell, andererseits nutzt sie die Orchester und Chöre auch als Propagandamittel und stellt das Ganze als eigenes Produkt dar.
Bildquelle: © dpa Viele der Musiker haben mittlerweile genug von der Korruption und den Einschüchterungsmethoden, die sie immer wieder auch innerhalb der Orchester erfahren. Auch die erschütternde Kriminalität und die alltäglichen Zustände der Wirtschaftskrise gehen nicht unbemerkt an ihnen vorbei. Auch an den Orchestern wird nun gespart - viele können nicht mehr von der Musik leben. In den letzten Jahren wandern immer mehr Musiker aus, schließlich haben sie mit ihrem hohen musikalischen Niveau auch gute Chancen im Ausland.
Die Kultur überlebt Regierungen
Trotzdem stelle ich bei meinem Besuch fest, dass die Orchester und Chöre immer noch tausenden von Kindern und Jugendlichen ein zweites Zuhause und einen gewissen Halt geben - vor allem an den Musikzentren im Landesinneren. Ein Grund für viele, trotz der Umstände weiterzumachen. Eine Musikerin, die anonym bleiben will, sagt zu mir, was viele denken - sich aber nur wenige zu sagen trauen: "Als Maestro Abreu und Gustavo angegriffen wurden, haben wir uns gedacht: Wie kommen sie darauf, das einzige zu beschädigen, was hier noch funktioniert? El Sistema gibt es ja nicht erst seit dieser Regierung, es ist viel älter und hat schon viele verschiedene Regierungen miterlebt. Und alle Regierungen werden irgendwann von anderen abgelöst. Die Sache ist, sie zu überleben - denn die Kultur überlebt Regierungen."