Das Münchner Rundfunkorchester unter Enrique Ugarte trifft auf das Jazzquartett von Thilo Wolf und spielt Musik von George Gershwin. Wie gut die zwei Welten miteinander harmonieren und was Gershwin spielen mit feuchten Stellen im Haus zu tun hat, erfahren Sie im großen Interview mit den beiden Künstlern.
Bildquelle: Wagner / Wiener
BR-KLASSIK: Thilo Wolf und Enrique Ugarte, wenn Sie Gershwin getroffen hätten, was würden Sie unternehmen oder ihm sagen?
Enrique Ugarte: Ich hätte ihm gratuliert und gesagt: "Was du hier schaffst, ist die neue amerikanische Musik. Und wenn ich Dich irgendwie unterstützen könnte oder wenn Du mich brauchen könntest, dann akzeptiere ich alles bedingungslos." Ja, ich wäre mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen.
BR-KLASSIK: Und Sie, Herr Wolf?
Thilo Wolf: Ich hätte ihn wahrscheinlich dazu motiviert, noch viel mehr und noch schneller zu schreiben, weil ich ja heute weiß, dass er nicht so lange gelebt hat. Und wer weiß, was er noch alles geschrieben hätte, wenn er denn länger gelebt hätte. Was uns da noch an Songs und Melodien entgangen ist, das mag man sich gar nicht ausdenken.
BR-KLASSIK: Um auf den Titel des Konzerts anzuspielen. diese "Gershwin Melodien" haben ja eine unglaubliche Qualität. Man hört sie einmal, und sie hängen in den Gehörgängen drin wie ein richtig guter Ohrwurm. Was hat eine Gershwin Melodie, was andere Melodien nicht haben?
Thilo Wolf: Eine gute und starke Melodie erkennt man daran, dass sie sofort erkennbar ist, auch wenn sie ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen auf der Blockflöte spielen. Bei heutiger Musik braucht es das Arrangement, den ganzen "Zirkus außenrum". Aber eine starke Melodie erkennt man mit dem einfachsten Instrument, und das hat Gershwin perfekt gemacht.
BR-KLASSIK: Wie ist denn die Liebe zur Musik von George Gershwin bei Ihnen jeweils entstanden?
Enrique Ugarte in der BR-Studios | Bildquelle: BR/Markus Konvalin Enrique Ugarte: Eigentlich hatte ich in meiner Jugend keine Beziehung zu dem Musiker Gershwin, außer vielleicht zu "Rhapsody in Blue". Aber dann ist es so gekommen, dass ich als Dirigent ein Programm mit Gershwin gemacht habe – das war so eine Mischung aus Soul und Sinfonieorchester. Da habe ich die Schönheit von Gershwins Melodien entdeckt. Die besitzen eine hohe Qualität und trotzdem Ohrwurmqualität, ohne flach zu sein.
BR-KLASSIK: Und bei Ihnen, Thilo Wolf, gab es so ein Initial-Erlebnis mit George Gershwin?
Thilo Wolf: Ich war ungefähr zehn, elf Jahre alt und hatte gerade seit zwei Jahren Akkordeonunterricht. Damals bin ich mit meinem Vater nach Nürnberg in ein Musikgeschäft gegangen. Die hatten eine riesige Notenabteilung, und wir sind da so durchgestöbert. Und dann hat mein Vater ein blaues Heft rausgezogen, das hab‘ ich bis heute. Er sagte: "Das ist Musik von Gershwin, die könnte dir gefallen." Und damit war's um mich geschehen. Seitdem gab es fast kein Konzert, wo ich nicht mindestens einen Titel von George Gershwin gespielt habe.
Die können alles!
BR-KLASSIK: Jetzt mit dem Münchner Rundfunkorchester spielen Sie diese Gershwin Songs in einem Arrangement. Die Songs werden also groß gezoomt, von der kleineren Besetzung auf Großleinwand projiziert. Wie funktioniert das?
Enrique Ugarte: Ich möchte zunächst betonen, dass es unglaublich Spaß macht, mit dem Münchner Rundfunkorchester dieses Programm zu spielen. Man nennt es ja auch das "Überraschungs-Orchester". Die können alles, reagieren schnell auf meine Ansagen und die Bandbreite des Repertoires ist extrem groß. Das empfinde ich als eine große Qualität des Münchner Rundfunkorchesters.
Infos zum Konzert:
Sonntag, 12.11.2023, 19.30 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP8
Thilo Wolf Jazz Quartett
Münchner Rundfunkorchester
Enrique Ugarte, Leitung
BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Sonntag, 12.11.2023 um 19:30 Uhr live aus der Isarphilharmonie
BR-KLASSIK: Und wie passen Jazzquartett und Orchester zusammen?
Thilo Wolf | Bildquelle: Dirk Kampa Thilo Wolf: Ein ganz wichtiger Punkt ist die Anfertigung der Arrangements. Darüber haben wir uns sehr viele Gedanken gemacht. Uns war wichtig, dass jedes der beiden Ensembles in seiner Identität bleiben kann und die Möglichkeit hat, seine Stärken auszuspielen. Es wäre ein großer Fehler, einem Symphonieorchester ein Big Band-Arrangement überzustülpen. Das würde nicht funktionieren. Aber natürlich gibt es in diesem Programm viele Gelegenheiten, wo wir ineinandergreifen.
BR-KLASSIK: Und wie ist es in Sachen Führungskraft – wer hat am Ende das Sagen?
Enrique Ugarte: Es ist eine Kooperation, wenn sich zwei Leute so gut verstehen wie wir. Das macht natürlich auch Spaß. Ich versuche, die ganzen Wünsche von Thilo zu respektieren. Andersherum auch.
BR-KLASSIK: Aber Thilo Wolf mit seinem Quartett spielt ja sozusagen hinter Ihrem Rücken. Haben Sie da keine Sorge, dass er einfach macht, was er will?
Enrique Ugarte: Er sitzt nicht ganz hinter meinem Rücken. Ich sehe ihn schon, wenn ich zu den ersten Geigen seitlich rüber schaue (lacht).
BR-KLASSIK: Im Jazz wird viel improvisiert. In der Klassik wird viel nach Noten gespielt. Wieviel ist bei diesem Abend komponiert? Was wird improvisiert?
Thilo Wolf: Wir als Jazzquartett haben immer wieder Freiräume zu improvisieren. Das ist ja das Schöne. Das klassische Orchester kann diese unglaubliche Klangfülle zur Geltung bringen. Und dann gibt es die Parts, wo wir gewisse Freiheiten haben und von der Leine gelassen werden. Aber dann kommen wir wieder zurück. Wenn sich das so verzahnt, Jazzquartett und Orchester, sind das wahnsinnig schöne Momente.
Enrique Ugarte: Beim Orchester geht es vor allem um die Phrasierung, dass die Musiker:innen richtig die Seele des Jazz widerspiegeln.
BR-KLASSIK: Und wie bringen Sie das Münchner Rundfunkorchester zum Swingen?
Enrique Ugarte: Die bringen schon viel Erfahrung mit. Das ist ein Orchester, das richtig gut swingen kann!
BR-KLASSIK: Thilo Wolf, Sie als Meister des Swing: Was ist das Herz des Swing?
Thilo Wolf: "It Don't Mean a Thing if It Ain't Got That Swing“ hat Duke Ellington mal gesagt. Ich habe mal eine Definition in einem Musiklexikon über Swing nachgelesen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe sie nicht verstanden. Entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht.
BR-KLASSIK: Sie sind beide in ganz vielen musikalischen Sphären unterwegs. In so einem Zusammenhang spricht man oft von "Crossover". Das heißt ja, ich muss etwas überqueren, also eine Grenze übertreten. Gibt es überhaupt eine Grenze in der Musik?
Enrique Ugarte: Ich denke nicht, dass es eine Grenze gibt. Einige kommunizieren so, andere kommunizieren anders. Solange sie kommunizieren, ist alles gut. Das ist der gemeinsame Nenner. Ist ja bei uns Menschen genauso. Der eine hat kleinere Hände als der andere etc. Der eine ist so, die andere so. Aber wenn zwei Menschen sich verstehen, ist da diese geistige Ebene. Dann fallen alle Grenzen weg. Man empfindet Zuneigung und Verständnis. Und dann ist es egal wer hier "gecrosst" hat.
George Gershwin | Bildquelle: © picture-alliance / akg-images Thilo Wolf: Ich finde das Thema wahnsinnig spannend, denn für uns Künstler gibt es die Grenzen oft nicht. Allerdings: wir reden viel von Toleranz, aber die fehlt auch oft in der Musik. Wenn einer sich auf vielen Feldern bewegt, dann wird er kritisch beäugt nach dem Motto: "Du machst alles, aber nichts vernünftig". Und das ist tatsächlich ein Problem, im Jazz wie auch in der Klassik, dass manchmal die Toleranz für das andere fehlt. Die ganze Musikgeschichte ist entstanden, weil sich Menschen begegnet sind, aus unterschiedlichen Kulturen gemeinsam Musik gemacht haben. Und jeder hat die Inspiration des anderen aufgenommen. Insofern ist für mich Crossover auch eine Art Weiterentwicklung, weil dadurch neue Dinge entstehen. Das müssen wir zulassen. Für Menschen wie Enrique und mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber das ist nicht unbedingt weit verbreitet.
BR-KLASSIK: Spielen Sie auf das Spezialistentum an?
Thilo Wolf: Da habe ich ein schönes Beispiel. Ich hatte eine feuchte Stelle in meinem Haus. Ich hatte einen Installateur da, der hat nachgeschaut, aber nichts gefunden. Ich hatte einen Trockenbauer. Der hat auch nichts gefunden, dann habe ich einen Allgemeinen Wald- und Wiesen Handwerker geholt. Und er hat genau drei Minuten draufgeschaut und das Problem gefunden. Das war ein Generalist. Die Spezialisten schauen einen Bereich an, aber der Generalist hat den Überblick.
BR-KLASSIK: Kommen wir noch einmal zurück zu George Gershwin: Es sind ja alles Songs, die einen Text haben. Im Konzert „Gershwin Melodies“ wird das alles instrumental gespielt. Wie vermittelt sich trotzdem der Inhalt des Liedes? Fehlt das nicht?
Thilo Wolf: Wir haben immer eine starke Melodie. Insofern trägt sie auch ohne Text tatsächlich. Das ist ja das Schöne an der Musik, auch in den ganzen Standards. Das American Songbook, das ist von allen möglichen Instrumentalisten gespielt worden. Diese Songs leben auch ohne Text. Jetzt muss ich ganz ehrlich sagen: Als Pianist weiß ich ganz oft gar nicht, was in den Texten passiert, weil ich die lustigerweise auch als Vokalise und instrumentell wahrnehme. Da streite ich mit meiner Frau ab und zu, die sagt: "Du hast ja keine Ahnung, was in dem Song eigentlich passiert." Stimmt, obwohl ich ihn 30 Mal gehört habe. Ich weiß nicht, um was es geht, weil ich mich auf die Musik konzentriere. Und die Musik funktioniert definitiv ohne Text. Aber mit sind die Songs natürlich auch schön.
Sendung: BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Sonntag, 12.11.2023 um 19:30 Uhr live aus der Isarphilharmonie
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