Beim Pariser Wettbewerb "La Maestra" für Dirigentinnen aus aller Welt hat die Venezolanerin Glass Marcano für Aufsehen gesorgt. Sie gewann den Orchesterpreis und wurde von Arte zum Publikumsliebling erklärt. In ihrem südamerikanischen Heimatland trat die angehende Dirigentin mit verschiedenen Orchestern im ganzen Land auf, seit 2018 ist sie die Leiterin des Orchesters des Simon Bolivar Konservatoriums in der Hauptstadt Caracas. Seit dem Wettbewerb lebt sie in Paris.
Bildquelle: Masha Mosconi
Glass Marcano schmunzelt, als sie sich an die Anfänge ihrer Musikkarriere erinnert. "Als Kind war ich in der Schule sehr aufmüpfig. Eine Lehrerin hat meiner Mutter damals empfohlen, mich in den Musikunterricht zu schicken – sie meinte, das könnte hilfreich für mein Benehmen sein", erzählt die heute 24-jährige Afro-Venezolanerin. Ihre Mutter folgte dem Rat, Marcano begann Geige zu spielen. Ermöglicht wurde das durch El Sistema, das soziale Musikprojekt in Venezuela, das mehr als einer Million Kindern und Jugendlichen kostenlosen Musikunterricht ermöglicht.
Ich glaube nicht, dass das Zufall war – irgendwie sollte ich wohl zur Musik kommen.
Als Glass Marcano mit 16 Jahren die 10. Symphonie von Schostakowitsch im Orchester spielt, weiß sie, dass sie irgendwann vorne am Pult stehen will. "Nach dem Signal der Trompeten hat unser Dirigent damals den Mund dramatisch weit aufgerissen. Das war so intensiv, dass es mich nicht mehr losgelassen hat. Danach habe ich mir vorgestellt, wie ich das selbst später mal dirigieren würde, mit den gleichen Gesten." Der Traum wurde wahr: Heute ist die 24-Jährige Dirigentin.
Das Temperament hat ihr die Musik allerdings nicht ausgetrieben. Vielleicht zum Glück, denn mit Talent und Energie sorgte sie vor kurzem beim Wettbewerb "La Maestra" in Paris für Furore. Der Wettbewerb fördert junge Dirigentinnen aus aller Welt, Glass Marcano bekam den Preis des Orchesters, eine besondere Ehre für sie. Von Anfang an fühlte sie sich beim Paris Mozart Orchester wohl. "Am Anfang hat keiner mein schlechtes Englisch verstanden. Also habe ich gestikuliert und gesprochen, wie es aus mir herauskam", sagt Marcano. "Das war zwar immer noch mit schlechtem Englisch, aber ich war einfach ich selbst – und so haben sie sogar meine Witze verstanden, sie wurden ein Teil von mir."
Bildquelle: Masha Mosconi Doch nach Europa und überhaupt zum Dirigieren zu kommen war nicht einfach. In ihrer Heimatstadt San Felipe gibt es kein Konservatorium, also musste Marcano nach der Schule in die Hauptstadt Caracas ziehen, wo das Leben härter und gefährlicher ist. Neben dem Musikstudium studierte sie Jura, zur Sicherheit – das war die Bedingung ihrer Familie.
150 Euro betrug die Anmeldegebühr für "La Maestra", nur dank einer Crowdfunding-Kampagne konnte Glass Marcano sie bezahlen. Der monatliche Mindestlohn beträgt in Venezuela aufgrund der verheerenden Wirtschaftskrise derzeit zwei Euro fünfzig. Dazu kam in diesem Jahr die Corona-Pandemie – als die Einladung zum Wettbewerb in Paris kam, schien es für Glass Marcano unmöglich, nach Europa zu fliegen.
Um ihre Familie zu unterstützen, arbeitete Glass Marcano seit dem Ausbruch der Pandemie im Familiengeschäft, einem Obstladen. Auch davon ließ sie sich nicht ausbremsen. "An den Tagen, an denen ich im Obstladen arbeiten musste, habe ich einfach dort geübt, wenn gerade keine Kunden da waren", erzählt Marcano. "Dann habe ich angefangen, Videos zu schauen und die Arme dazu zu bewegen." Sie erwog auch, mit dem Dirigieren aufzuhören. "In Venezuela kommt man einfach an einen Punkt, wo man realistisch sein muss und die Leidenschaft hintanstellen muss, um überleben zu können."
Dank verschiedener Organisationen schaffte Marcano es dann doch auf einem humanitären Flug nach Europa. Seit dem Wettbewerbserfolg ist Glass Marcano nun in Paris. Sie studiert dort am Konservatorium und in Meisterklassen verschiedener Dirigentinnen und Dirigenten. Sie hatte bereits einige Auftritte in Paris und arbeitete zuletzt als Assistentin beim Kölner Gürzenich Orchesters an der Seite von Dirigent François-Xavier Roth.
Als Schwarze Frau am Pult hat Glass Marcanos Erfolg auch über die Grenzen von Europa und Lateinamerika hinaus für Aufsehen gesorgt. "Viele Leute mit meiner Hautfarbe haben mir auf Instagram geschrieben, wie toll sie es finden, dass es eine Schwarze Dirigentin gibt. Ich glaube das ist etwas sehr Menschliches: Obwohl du nicht verwandt bist, fühlst du dich verbunden und siehst ein Vorbild. Das spürst du einfach."
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