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Die Tanzmedizinerin Juliane Simmel im Gespräch "Man kann auch mit Normalgewicht tanzen"

Nach Missbrauchvorürfen gegen die Wiener Ballettakademie stellt sich die Frage: Sind Gewalt und Ausbeutung fest in der klassischen Ballettausbildung verankert? Dr. Liane Simmel, Tanzmedizinerin und selbst ehemalige Profitänzerin, widerspricht dem vehement, plädiert aber für Änderungen – in der Ausbildung und in der Berufswelt.

Bildquelle: Privat

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BR-KLASSIK: Die Vorwürfe gegen die Wiener Ballettakademie sind ja schrecklich. Schüler und Schülerinnen sollen dort über Jahre hinweg gedemütigt und geschlagen worden sein. Wien ist da ja auch kein Einzelfall; auch an anderen Akademien gibt es ganz ähnliche Vorwürfe. Wie normal sind denn Ihrer Meinung nach Gewalt und Ausbeutung in der klassischen Ballettausbildung?

Dr. Liane Simmel: Das Wort normal möchte ich da überhaupt nicht in den Mund nehmen, weil ich das Ganze ja von der Seite der Tanzmedizin betrachte und wir seit über 20 Jahren genau das sagen: Vorsicht, passt auf, was Ihr mit Euren Tänzern macht in der Ausbildung. Es ist uns schon bewusst, dass häufig pädagogische Methoden angewandt werden, die sehr altertümlich sind und auch nicht neu hinterfragt werden. Trotzdem möchte ich sagen: Es gibt auch Schulen, an denen es definitiv anders läuft, und es gibt auch wirklich viele Pädagogen, die sich sehr viele Gedanken darüber machen, wie man eine traditionelle klassische Ausbildung wirklich zeitgemäß pädagogisch strukturieren kann.

BR-KLASSIK: Müssen sich Tanzmediziner manchmal gegen den Lehrer durchsetzen und Kämpfe führen?

Dr. Liane Simmel: Ich denke, es ist ganz ähnlich wie in der Sportwelt. Auch ich habe Kontakt zu Sportmedizinern, die im Basketball oder im Fußball unterwegs sind. Ganz häufig gehen die Zielsetzungen einfach diametral auseinander.

BR-KLASSIK: Wie unterscheiden sich da klassischer und moderner Tanz? Ist moderner Tanz vielleicht ein bisschen nachgiebiger, was die Voraussetzungen angeht?

Dr. Liane Simmel: Der moderne Tanz ist ja aus dem diametralen Anderssein im Vergleich zum klassischen Tanz entstanden. Man wollte eben genau dieser Form nicht genügen müssen. Deswegen ist schon diese zeitgenössische Richtung sehr viel freier und sehr viel körperorientierter im Sinne von: Was bietet der Körper von alleine? Welche Bewegungsqualitäten habe ich von alleine, ohne sie irgendwie Formen unterzuordnen? Und daraus ergibt sich eigentlich auch, dass Schulen, die auch in den zeitgenössischen Sektoren ein größeres Augenmerk und einen größeren Schwerpunkt setzen, auch in ihrer Offenheit, was unterschiedliche pädagogische Ansätze angeht, einfach breiter aufgestellt sind.

Wer ernährt sich denn wirklich lustvoll und freudvoll einfach aus dem Emotionalen heraus?
Dr. Liane Simmel

BR-KLASSIK: Zum Tanz gehört ja auch irgendwie ein gewisses Körperideal. Und da ist man auch ganz schnell beim Thema Figur und Ernährung. In diesem Wiener Fall soll es eine Schülerin gegeben haben, die 37 Kilo gewogen hat bei über 170 Zentimetern Körpergröße. Wie verbreitet sind denn Essstörungen bei Balletttänzern?

Dr. Liane Simmel: Ich denke, es verhält sich da wie in anderen ästhetischen Sportarten oder wie in der Modebranche, wo wir einfach über das Äußere die Leute beurteilen. Da sind der Druck und der Zwang, dem zu genügen, natürlich extrem hoch. Und das führt zu Essstörungen und gestörtem Essverhalten. Da fängt es ja schon an. Wer ernährt sich denn wirklich lustvoll und freudvoll einfach aus dem Emotionalen heraus? Das sind nur wenige Tänzer, aber auch wenige Models oder Hochleistungssportler.

BR-KLASSIK: Kann man auch mit Normalgewicht gut tanzen?

Dr. Liane Simmel: Ja definitiv. Ich finde, gerade wenn man den Tanz in einer Gesellschaft verankern will, die sich für den Tanz begeistern soll und die ja immer körperloser wird, dann ist es für mich – die ich ja auch vom klassischen Tanz selber komme – inzwischen viel spannender, wirklich Leute zu sehen, die gar nicht mal normalgewichtig, sondern übergewichtig sind ... Ich habe immer wieder Tänzer, wo ich mir denke: Spannend, dass sie sich so bewegen können.

Es ist auch die Tanzwelt selber, die immer versucht, es nochmal weiterzutreiben.
Dr. Liane Simmel

BR-KLASSIK: Sind da unsere Ansprüche als Publikum vielleicht zu hoch?

Dr. Liane Simmel: Ich glaube, es ist gar nicht das anspruchsvolle Publikum, das unbedingt High Extensions, 32 Double-Pirouetten oder was auch immer sehen muss, sondern es ist schon eher die Tanzwelt selber, die immer versucht, es nochmal weiterzutreiben – wie eben auch im Sport.

BR-KLASSIK: Wie kann sich das bessern und wie kann künftig diese Breite zugelassen werden?

Dr. Liane Simmel: Das Wichtigste ist, wirklich darüber zu reden: Was wollen wir eigentlich sehen? Welche Kunstform ist Tanz eigentlich? Was bringt Tanz der großen Bevölkerung? Diese Freude an der Bewegung und diese Leidenschaft für feinste Körperlichkeit, das ist ja so ein Schatz, den wir damit haben. Und je mehr wir den eigentlich einschließen und einengen, umso mehr rationalisieren wir ihn irgendwann auch weg.

BR-KLASSIK: Wenn man jetzt mal ins Konkrete geht: Wie kann gesundes Tanzen denn aussehen?

Dr. Liane Simmel: Gerade diese Schulen, die etwas breiter aufgestellt sind, machen es schon ganz gut: Dass man eben einfach über diese zeitgenössischen Techniken wie "Body Awareness" und über eine Grundausbildung mit wirklich funktioneller Anatomie seinen Körper wirklich kennenlernt und eben nicht nur in eine Richtung trimmt. Erstens wird darüber auch Kreativität geschöpft, also Kreativität aus dem Körper, und der Tänzer lernt auch eine bessere Eigenverantwortung – und damit natürlich auch eine viel klarere Positionierung hinsichtlich dessen, was passt und was nicht passt. Und da würde ich auch nicht nur die Ausbildung ändern, sondern tatsächlich auch später die Arbeitstellen. Denn nur wenn wir Tänzer haben, die auch reflektieren, gehört werden und sich erlauben, auch einfach ganz neue Wege zu gehen, bleibt das Ganze spannend. Erst dann wird sich die Arbeitswelt dem auch anpassen.

Sendung: "Leporello" am 12. April 2019 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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