Fünf Grammys gab es in diesem Jahr für den Pianisten und Sänger Jon Batiste: einen Musiker, der vom Jazz kommt. Nicht zuletzt das zeigt: Ein Musikgenre, das inzwischen 120 Jahre alt ist, verliert nicht an Anziehungskraft und Aktualität. Jazz ist seit jeher eine Musik, die besonders wach auf Zeitstimmungen reagieren kann - und auf die Wandelbarkeit der Welt. Einige Gedanken zu Tönen, die seit 2011 jedes Jahr am 30. April besonders gefeiert werden – dem International Jazz Day. Tönen, die auch im Kriegsjahr 2022 so aussagekräftig wie nur wenige andere sind.
Bildquelle: Leléka
Aus aktuellem Anlass höre ich mir eine Sängerin an, die aus der Ukraine stammt und in Deutschland lebt: Viktoria Leléka. Ich höre sie in einer Live-Aufnahme des Bayerischen Rundfunks von der Internationalen Jazzwoche Burghausen 2018. Da gibt es ein ganz leises Lied. Doch Viktoria Leléka kündigt es an als "ein Schreien der Erde, die Frieden haben will". Ein Volkslied, es heißt "Plyve Kacha". Es ist der Dialog zwischen einer Mutter und einem Sohn, der in den Krieg zieht. Mit melancholisch-zartem A-cappella-Gesang beginnt Viktoria Leléka das Stück und singt es dann über leisen Tönen eines gestrichenen Basses so undramatisch wie ergreifend. Leuchtende Sehnsucht nach einer Welt ohne tödliche Gewalt drückt diese Interpretation aus. Das Lied klingt bei Viktoria Leléka immer noch nach einem Volkslied – es fügt sich aber in ein modernes Jazzprogramm ein, das die Folk-Anleihen völlig selbstverständlich verschmilzt mit zeitgenössischen Improvisationen. Mit diesen und anderen Liedern gewann Viktoria Leléka den Nachwuchspreis von Burghausen im Jahr 2018.
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LELÉKA - Пливе кача (Plyve kacha)
Jazz: eine Musik, die ganz nah am Leben (und in diesem Fall auch: am Sterben) sein kann. Eine Musik mit starkem Gegenwarts-Bezug. Und: eine Musik, die anders klingt, als sich viele den Jazz vielleicht vorstellen. Denn "wild" sei sie, schwer nachvollziehbar, intellektuelles Futter, das nur für Spezialisten, für Blue-Note-Nerds, geeignet ist: Das sind die gängigen und wohl kaum noch auszutreibenden Vorurteile über diese eigenwillige, besondere und immer wieder verblüffend weltoffene Musik. Sprechen junge Journalisten über Jazz, wie unlängst in einer Kolumne über empfehlenswerte Podcasts, dann hört man Sätze wie: "Ich bin ja eigentlich kein Jazzhörer, aber dieser Podcast hat mich angesprochen." Das zeigt: Jazz gilt Vielen als altmodisch, schwierig, entlegen, außerhalb des normalen Alltags. Überspitzt gesagt: ein Zeug für irdische Außerirdische.
Eines stimmt: Jazz ist eine Musik, die – heute – zumeist außerhalb des großen Kommerzbetriebs funktioniert. Popmusik war sie nur eine kurze Zeitspanne lang, zur Ära des Swing. Seit etwa sechs Jahrzehnten ist sie in manchen ihrer Ausprägungen notorisch unpopulär und daher unabhängig von Moden. Wer sie macht, sucht heute nicht das schnelle große Geld, sondern vor allem den besonderen persönlichen Ausdruck. Für manche Musiker reicht das Geld, das sie mit Jazz verdienen, nicht einmal für die Miete (die sowieso immer höher wird), sie müssen mit Musik für TV-Soaps etwas dazuverdienen oder lehren an Universitäten, städtischen Musikschulen und privat. Zur Jazzmusiker-Existenz gehört also das Trotzdem.
Jazz vereint Klänge der ganzen Welt in sich.
Das ist seit jeher eines der Kennzeichen von Jazz. Diese Musik trotzt. Und in diesem Trotzen überzeugt der Jazz seit vielen Jahrzehnten eine hartnäckige Anhängerschar in vielen Ländern der Welt. Er trotzt schrill, schön, heftig, kantig, kreischend – doch auch oft gelassen und swingend. Jazz, das sind sehr häufig: elastische Töne, deren Widerstandskraft auch im punktuellen Nachgeben-Können besteht.
Bildquelle: © picture alliance / Photoshot Jazz vereint Klänge der ganzen Welt in sich. Jüdische Auswanderer aus Russland schrieben viele der Stücke, die im Jazz als sogenannte "Standards" aufgingen. Viele Japaner sind nach Jazz verrückt. Europäer lieben ihn seit den 1920er Jahren und verbanden ihn nach 1945 mit dem Erstarken neuer Demokratien. Afrikaner wie der Saxophonist Manu Dibango eigneten ihn sich augenzwinkernd wieder an: "Der Jazz gehört allen – sogar den Afrikanern", sagte er. Australier spielen ihn. Süd- und Mittelamerikaner haben den Jazz mit eigenen Klängen vermischt. So wurde eine Musik, die sich um 1900 im Mississippi-Delta aus Elementen der europäischen Musik und der afrikanischen Musiktradition von Sklaven und ehemaligen Sklaven entwickelte, zum auf allen Kontinenten beheimateten Sound. Und überall, wo er sich niederließ, entwickelte er lokale Ausprägungen: als Independent-Sound für Improvisationsfreudige.
Jazz – das gehört auch zu seiner Geschichte – ist unbequem. Er mischte sich beizeiten ein ins politische Geschehen. Ein Musiker, der am 22. April 2022 seinen 100. Geburtstag hätte, der Bassist und Komponist Charles Mingus, ist besonders mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden. Eines seiner berühmtesten Stücke heißt "Fables of Faubus". Der Hintergrund: 1957 hatte der Gouverneur von Arkansas, Orval E. Faubus, die Nationalgarde eingesetzt, um afroamerikanische Schüler in der Stadt Little Rock daran zu hindern, eine Schule zu betreten, die auch weiße Schüler besuchten. Auf dieses Ereignis bezog Mingus sich mit dem Stück "Fables of Faubus". Das Stück hatte er bereits fertig, als er nach einem Titel suchte. Da bat er seinen Schlagzeuger Dannie Richmond: "Nenn mir jemand Lächerliches, Dannie". Und Dannie Richmond fiel ein: Gouverneur Faubus. Da stand der Titel fest. Das Stück wurde zu einem bedeutenden Statement des Jazz. In melancholischen Tönen entfaltet das Stück eine rätselhaft schöne Kraft: die Kraft einer Gemeinschaft, die Widerspruch leistet.
Charles Mingus, ein großer schwergewichtiger Mann mit Ecken und Kanten, war ein besonders politisch bewegter Jazzmusiker. Das zeigt sich auch an weiteren Stücken von ihm, die zum Beispiel "Prayer for passive resistance" heißen, "Oh Lord, don’t let them drop that atomic bomb on me" oder: "It was a lonely day in Selma, Alabama". Hinter dem letztgenannten Titel verbirgt sich ein Ereignis, das als blutiger Sonntag in die Geschichte einging. In der Stadt Selma in Alabama marschierten 1965, angeführt von Martin Luther King, Bürger in Richtung des 85 Kilometer entfernten Montgomery, um für das Wahlrecht für Schwarze zu demonstrieren. Doch am Rande von Selma wurden 600 friedliche Demonstranten von der Polizei mit Knüppeln und Tränengas am Weitermarschieren gehindert.
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It Was a Lonely Day in Selma, Alabama - Freedom
Jazz ist in manchen seiner besonders starken Ausprägungen eine Musik am Puls der Zeit.
Jazzmusiker sind nicht müde geworden, ihre Musik mit politischen Botschaften zu verbinden. Einer der heute bedeutendsten unter den politisch besonders wachen Musikern ist der amerikanische Trompeter Ambrose Akinmusire. In dem Stück "Rollcall for those absent" (etwa "Appell für die Abwesenden") von 2014 zählt eine Kinderstimme die Namen von Opfern rassistisch motivierter Schusswaffengewalt auf. Das setzte er 2018 in dem Stück "Free, white, and 21" mit der Sprechstimme des Rappers "Kool A.D." über der Musik eines Jazz-Ensembles und eines Streichquartetts fort. Denn die Liste von durch rassistische Gewalt zu Tode gekommenen Afroamerikanern erweiterte sich ständig – und der tragische Fall George Floyd, der auf der ganzen Welt für Entsetzen sorgte, lag 2018 noch zwei Jahre in der Zukunft.
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Rollcall For Those Absent
Allein diese Beispiele zeigen: Jazz ist in manchen seiner besonders starken Ausprägungen eine Musik am Puls der Zeit. Krieg (und zuvor: die Kriegsgefahr) in der Ukraine, rassistische Gewalt in den USA und anderswo auf der Welt: Diese Themen hat der Jazz aufgegriffen, lange bevor sie durch besonders exponierte Ereignisse in der ganzen Welt diskutiert wurden. Jazz also ist: Musik, die die schweren Themen ihrer jeweiligen Zeit angeht. Musik, die gern auch unterhält, aber neben Unterhaltung mehr noch Haltung anstrebt.
Bildquelle: NRW Records Und: Jazz ist bunt. Ist er auch divers? Das ist eine aktuelle Frage, die sich bei einer Musik mit so feinen Sensoren unbedingt stellt. Und die man – in diesem Fall – nicht eindeutig beantworten kann. Der Pianist Fred Hersch schildert in seiner Autobiographie "Good Things Happen Slowly" (2017), dass es lange dauerte, bis er als Homosexueller sich nicht vor anderen Musikern verstecken musste. Es gab Zeiten, in denen er von einem musikalischen Partner, dem er sich anvertraute, bei anderen angeschwärzt worden sei: Fred Hersch habe den anderen Musiker sexuell belästigt. Das ist ein Aspekt, der das Bild einer besonders freiheitlich geprägten Musik deutlich trübt. Eine ebenso trostlose Männerwelt wie der weitgehende Rest? Auch Musiker wie der deutsche Vokalist Michael Schiefel, der eine Gesangsästhetik zwischen dem Geschlechtertypischen geprägt hat, und dessen 1996 geborener und in der aktuellen Szene vielbeachteter Kollege Erik Leuthäuser sind merklich selten im Jazz. Das gilt auch für Bekenntnisse wie dasjenige der Musikerin Holly Schlott: Schlott ist eine Saxophonistin, die 1958 unter dem Namen Volker Schlott geboren wurde, als Mann lange Zeit eine Musiker-Karriere vorantrieb - und erst 2018 ihre Transgender-Identität öffentlich machte. Da ist der Jazz ebenso schwerfällig wie die Welt der klassischen Musik, in der immerhin etwa Daniela Huber, Geigerin im Bayerischen Staatsorchester und als Mann geboren, ein Zeichen setzte. Oder auch: Lucia Lucas im Badischen Staatstheater Karlsruhe, seit kurzem Bariton-Sängerin.
Bildquelle: picture alliance / Prokop Ivan/CTK/dpa | Prokop Ivan Hinzu kommt: Wie in vielen anderen Musik-Welten, gibt es auch im Jazz viele Frauen, die in den Geschichtsbüchern dieser Musik weitaus größere Lettern verdient hätten: die Pianistin und Komponistin Lil Hardin etwa, die von 1924 bis 1938 mit dem Trompeter Louis Armstrong verheiratet war. Schon vor dieser Ehe hatte sie sich einen Namen gemacht. Sie spielte Klavier in der Band von Kornettist Joe "King" Oliver, bei dem auch der junge Armstrong seine Sporen verdiente. Ihre musikalische Karriere hatte sie gegen den Willen ihrer Familie durchgesetzt. Sie prägte wesentlich den Klang von Louis Armstrongs "Hot Five", die in den 1920er Jahren bahnbrechende Aufnahmen machte. Und sie war ein bedeutender Motor für die große Karriere Louis Armstrongs. Doch sie ist im Prinzip heute nur noch den Spezialisten bekannt. Ähnlich verhält es sich bei der Pianistin, Komponistin und Arrangeurin Mary Lou Williams, einer der wohl größten Begabungen der Jazzgeschichte, aktiv von den späten zwanziger Jahren bis zu den späten Siebzigern, bewundert nicht zuletzt von männlichen Kollegen wie Duke Ellington. Und doch kennen bedeutend weniger Menschen außerhalb der Spezialisten-Kreise ihren Namen als diejenigen großer männlicher Musiker ihrer Zeit. Ähnlich liegt der Fall etwa bei der großartigen Pianistin Jutta Hipp oder bei der Arrangeurin und Komponistin Maria Schneider. Anders verhält es sich nur bei wenigen Ausnahme-Gestalten – bei der Pianistin und Komponistin Carla Bley etwa: Sie erreichte schon früh eine Popularität, die auch ihrer Bedeutung gerecht wird.
Immerhin setzen sich weltweit immer mehr Frauen auch an den Instrumenten durch – und nicht nur als Sängerin an der Spitze einer Band. Dennoch verblüfft es, dass es bis 2018 dauerte, bis etwa in Deutschland die erste Jazz-Instrumentalprofessorin an eine Musikhochschule berufen wurde: die Schlagzeugerin Eva Klesse an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.
Ich fürchte, der Jazz ist im Grunde noch immer in mancherlei Hinsicht eine Männerwelt.
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Lil Hardin Armstrong & Her Swing Orchestra - Oriental Swing
Ich fürchte, der Jazz ist im Grunde noch immer in mancherlei Hinsicht eine Männerwelt, vor allem, wenn es beim Reigen von Soli in einer Session noch heute ganz besonders darum geht, dass die Solisten zeigen, wer der stärkere ist – und wer den längeren Atem hat. Das konnte ich an der von mir geliebten Musik Jazz noch nie leiden.
Auch im Jazz sind also bei weitem nicht alle Probleme dieser Welt bereits gelöst. Aber diese Musik scheint auf einem guten Weg zu sein. Sie sucht den Fortschritt, mehr Gleichberechtigung, größere Buntheit.
Bildquelle: Henry Leutwyler / ECM Records Sie ist dabei in der Lage, Musik zu schaffen, deren Kraft zeitlos ist. Vor wenigen Tagen legte ich mehr oder minder zufällig ein Stück wieder auf, das 1983 aufgenommen wurde: das Trio des Pianisten Keith Jarrett mit dem Billie-Holiday-Stück "God Bless The Child". Ein Pulsieren, ein kraftvoller Beat, unterschwellige Energie. Darüber ein großer Gesang des Klaviers. Vielleicht ist es ein Klagegesang. Vielleicht aber auch ein innerlich jubelnder Gesang – darüber, dass es überhaupt Gesang gibt. Ein Stück von immenser Intensität. Das Gegenteil von harmlos. Im Original ist es ein Stück über Kinder, die Not leiden und hungern und sich nicht beklagen sollen, wenn sie von reichen Erwachsenen nur ein kleines Almosen bekommen. Ein bitterer Text zu einer wehmütig-schönen Musik. Die Trio-Fassung mit Keith Jarrett kommt natürlich ohne Text aus. Aber mich hat sie sofort wieder gefesselt, weil sie die drängende Kraft der Textbotschaft in wortlose Musik überträgt. 1983 übersetzte sie ein über 40 Jahre altes Stück in einen gegenwärtigen Klang. Dieser Klang ist, wie ich heute finde, kein bisschen gealtert. Mehr noch: Wenn ich ihn höre, habe ich das Gefühl, mich in Zeiten äußerster Beunruhigung nicht mehr verloren zu fühlen. Musik, die Gemüter auffangen kann, das Gefühl geben kann, in ihr aufgehoben zu sein.
Wenn eine Zeit besonders drastisch zeigt, dass heute nichts mehr so ist, wie es gestern war - und dass morgen nichts mehr so sein wird, wie es heute ist -, dann ist es die Zeit, in der wir gerade leben. Die Katastrophe des Klimawandels wird immer bedrohlicher. Die Pandemie hielt zwei Jahre lang die mundgeschützte Welt in Atem – nur, um von einem Krieg in Europa abgelöst zu werden, bevor sie richtig vorbei ist. Solch einer Situation kann vermutlich keine Musik dieser Welt gerecht werden. Die Passionen von Bach, die späten Streichquartette von Beethoven vielleicht, für manche dessen Neunte Symphonie, Werke wie Benjamin Brittens "War Requiem" und Olivier Messiaens "Quatuor pour la fin du temps" (Quartett für das Ende der Zeit), dessen Titel allein schon eine alarmierende Aktualität in sich trägt. Im Jazz wären ähnlich existentielle Stücke: John Coltranes "Alabama", Carla Bleys Suite "Life goes on" und Charles Mingus‘ wuchtiges Werk "Pithecanthropus erectus". Der zeitgenössische Jazz mit seiner vielfältigen Klangsprache und seiner tief verankerten Möglichkeit, sich frei zu bewegen und jedes Mal eine neue Identität zu finden, bietet sich für mich in solchen Zeiten mindestens genauso an: als eine für Zuhörende, wie ich finde, nicht gering zu schätzende Übung, sich auf eine Welt einzustellen, auf deren normales Funktionieren kein Verlass mehr ist.