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Kritik - Jewgenij Kissin in Salzburg Virtuosität ohne Egomanie

Am 2. August gab der Pianist Jewgenij Kissin ein Konzert im Großen Festspielhaus Salzburg. Schumann, Chopin, Debussy und Skrjabin standen auf dem Programm. Und Kissin entkleidete diese Komponisten von allen Klischees. Das einstige Wunderkind agierte als ernster, reifer Künstler.

Pianist Jewgenij Kissin | Bildquelle: © Nicolas Brodard

Bildquelle: © Nicolas Brodard

An diesem Abend gibt es keine mittleren Gefühle. Keine Gemütlichkeit, keine Betulichkeit, kein Breittreten und kein Auswalzen. Jewgenij Kissin macht radikal Ernst mit den Stücken, die er ausgesucht hat. Schon ihre Zusammenstellung ist ziemlich ungewöhnlich und signalisiert: Das hier wird jedenfalls keine gefällige Virtuosen-Show. Und wenn er dann spielt, meint man, eine Allergie gegen die allzu nahe liegenden Klischees zu spüren, die sich mit den vier Komponisten des Abends verbinden. Kissin spielt Chopin ohne Larmoyanz, Schumann ohne Biedermeier, Debussy ohne impressionistischen Weichzeichner und Skrjabin ohne mystischen Weihrauch. Ganz bewusst. Und dankenswerterweise.

Strenge ohne Kühle

Fast herb ist Kissins Zugang zu Chopins Nocturnes: Klar im Anschlag, mit phantastisch kontrolliertem Pedaleinsatz, deutlich herausgearbeiteten Nebenstimmen und wunderbar gesanglich phrasierten, weit schwingenden Melodielinien. Keine Sekunde erliegt Kissin der Versuchung, die eigene, private Gefühligkeit mit der viel tiefer reichenden Poesie dieser Musik zu verwechseln. So werden aus den sonst meist wohlig dahinplätschernden Nocturnes nächtlich-nachdenkliche Meditationen. Das lässt diese Musik überraschend streng wirken, ist aber keineswegs mit Kühle zu verwechseln. Im Gegenteil: Kissin spielt höchst ausdrucksvoll und unter Einsatz all der legitimen und gebotenen Mittel des romantischen Virtuosen, der er zweifellos ist. Nur eben befreit von der damit so oft einhergehenden Egomanie.

Da gibt es weder Launen noch Willkür. Grandios!
Bernhard Neuhoff über Jewgenij Kissin

Beängstigende Intensität

Die Dritte Klaviersonate von Robert Schumann bekommt bei Kissin eine geradezu beängstigende Intensität. Die schnellen Tempi und die nervöse Motorik seines Spiels geben dieser Musik etwas Fieberhaftes. Faszinierend ist, wie sich, vor allem im Finale, ein fast ekstatischer Geschwindigkeitsrausch mit größter analytischer Klarheit verbindet. Kissin hebt mit genau kontrolliertem Anschlag die Motive hervor, legt kontrapunktische Strukturen offen, durchleuchtet das Räderwerk dieser Musik. Bei aller Brisanz und Schärfe bleibt sein Spiel absolut unmanieriert: Da gibt es weder Launen noch Willkür. Grandios!

Groteske Szenen

Der Pianist Jewgenij Kissin  | Bildquelle: Sasha Gusov Evgeny Kissin | Bildquelle: Sasha Gusov Debussy gilt als Impressionist, wollte selbst aber auf keinen Fall so genannt werden. Weichgezeichnete Pastellfarben sucht man denn auch bei Kissin vergebens. Wieder setzt er auf zugespitzte Pointen und klare Konturen, was perfekt zu den ausgesuchten Nummern aus den 24 Préludes passt. Natürlich kann Kissin die Akkorde auch schweben lassen oder pittoresk das Rauschen des Wassers vors innere Auge zaubern – da, wo Debussy die entsprechenden Bilder beschwört (etwa in "La Cathédrale engloutie", der im Meer versunkenen Kathedrale). Aber wenn dann in der nächsten Nummer ein Clown durch eine Music Hall stolpert oder eine nächtliche Gitarren-Serenade in Andalusien ständig unterbrochen wird, dann malt Debussy eben gerade keine impressionistisch-verträumten Naturbilder, sondern er zeichnet mit scharfen Strichen groteske Szenen. Schließlich liebte Debussy in der bildenden Kunst die japanischen Holzschnitte mit ihren markanten Linien viel mehr als Monets Farbtupfer.

Virtuosität als Mittel des Ausdrucks

Kissin zieht, immer nah an der jeweiligen poetischen Idee, alle pianistischen Register: Schwebende Glockentöne am Beginn von "Les Collines d'Anacapri", jazzigen Swing in "Général Lavine", schneidende Dissonanzen in "Ce qu'a vu le vent d'ouest" und Liszt‘sche Bravour in "Feux d'artifice". Und bei Skrjabins Sonate Nr. 4 steigert er sich in ansteckende Euphorie hinein – Virtuosität als Mittel des Ausdrucks, nicht als Mittel, Eindruck zu schinden. Kein Zweifel: Aus dem ewigen Wunderkind ist längst ein hoch reflektierter, eigenwilliger und kompromissloser Gestalter geworden, ein großer und reifer Künstler.

Sendung: "Leporello" am 3. August 2018 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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