Er beherrscht Minimal Music genauso wie wuchtige, symphonische Klänge, ist in den japanischen Ghibli-Studios als Komponist für Animes genauso zu Hause wie an den Dirigierpulten der großen Konzertsäle dieser Welt: Der japanische Komponist Joe Hisaishi. Er werde nie in den Ruhestand gehen, so Hisaishi im BR-KLASSIK-Interview, er glaube, dass er bis zu seinem letzten Tag komponieren werde.
Bildquelle: Omar Cruz
Die Geschichte des Komponisten, der untrennbar mit den mystischen Märchen des japanischen Anime-Studios Ghibli verbunden ist, beginnt selbst wie ein Märchen: Es war einmal in den 50er-Jahren ein kleiner Junge aus Nagano, der Mamoru Fujisawa hieß. Mamorus Eltern waren große Filmfans und so nahmen sie ihren Jungen unzählige Male ins Kino mit. Und sie besaßen ein altes Grammophon. Zwar hörten sie selbst kaum Musik, aber der Junge war fasziniert von der surrenden Bambusnadel, die den wenigen Platten im Haus wunderschöne Klänge entlockte. Als er vier war, bestand Mamoru Fujisawa darauf, Geige lernen zu dürfen. Als er in die Schule ging, lernte er Saxophon, Posaune und andere Instrumente, und als Teenager spielte er in der Jazzcombo seiner Schule. Schon bald war der kleine Junge groß und verließ seine Heimatstadt, um die Welt der Musik zu erobern.
Der Begriff "Anime" bezeichnet Zeichentrickfilme und -serien, die in Japan hergestellt wurden. Seit 1985 entstehen berühmte Animes im Studio Ghibli, das seinen Sitz in Koganei im Westen Tokios hat. In diesem Jahr erhielt das Studio Ghibli den Ehrenpreis des 77. Filmfestivals in Cannes. Ein Anime bildet das Pendant zum Manga, dem japanischen Comic.
Während des Studiums an der Musikhochschule Kunitachi begann Fujisawa zu komponieren, inspiriert von der traditionellen Musik Japans, der europäischen Klassik und vor allem von der Minimal Music. An der Letzteren faszinierte ihn, und fasziniert ihn nach wie vor, die Komplexität. Alles wirkt zwar einfach, doch dahinter steckt viel mehr als nur ständiges Wiederholen, erklärte er einmal: "Wenn man ein langes Stück machen will, wird das schwierig ohne ein logisches System."
Minimal Music ist eine Art des Denkens. Ohne logisches System bleibt alles bloßes Bestreben.
Bis heute kehrt er immer wieder zur Minimal Music zurück, wie etwa 2001 in seiner Filmmusik für Takeshi Kitanos Road Movie "Kikujiros Sommer" – ein genialer Ohrwurm, der einfach glücklich macht!
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Joe Hisaishi - Summer
Schon zu Beginn seiner Karriere war Fujisawa klar, dass er nicht nur in seinem musikalischen Schaffen international denken wollte, sondern auch in der Vermarktung seiner Arbeit. Also suchte er einen Künstlernamen, der für ein internationales Publikum zugänglich war. Eigentlich wollte er mit dem Namen eines klassischen Komponisten arbeiten, weil er im Studium neben der Minimal Music vor allem Klassik geschrieben hatte. Nur als Scherz schlug er eines Tages den Namen des US-amerikanischen Musikers Quincy Jones vor – doch schnell merkte er, dass das Multigenie Jones als Komponist, Arrangeur, Produzent und Unternehmer ein gutes Vorbild war. Als Hommage an ihn transkribierte Fujisawa also den Namen Quincy Jones in der japanischen Schrift Kanji. Das Ergebnis: Joe Hisaishi.
Eigentlich wollte (und will) Hisaishi vorrangig klassische Musik für den Konzertsaal schreiben. Doch wie das Leben so spielt, wurde er 1974 zum ersten Mal für eine Animationsfilmproduktion angeheuert, und so komponierte er die Filmmusik zur Mangaserie "Hajime ningen Gyatoruz" ("First Human Giatrus"), ein japanisches Pendant zu Fred Feuerstein. Es folgten rund zehn weitere Mangaserien. Mit seiner Musik bediente Hisaishi die ganze Bandbreite zwischen Synthpop, japanischer Folklore und Klassik – und machte sich damit einen Namen. Parallel dazu schrieb er weiter Minimal Music, die er Anfang der 80er auch veröffentlichte.
1984 beauftragte ihn sein Label, Image Music zu schreiben, also Musik die nicht im Film vorkommt, aber mit dem Film vermarktet wird. Seine Image Music für das Anime-Großprojekt "Nausicaä aus dem Tal der Winde" besiegelte sein Schicksal, denn der Regisseur des Films, Hayao Miyazaki, hörte die Musik und beauftragte Hisaishi sofort, einen symphonischen Soundtrack für "Nausicaä" zu schreiben – ein episches, neo-romantisches Werk, das an Erich Wolfgang Korngold oder John Williams erinnert.
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Nausicaä of the Valley of the Wind - Complete soundtrack
Ab da war Hisaishi für Miyazaki das, was John Williams für Steven Spielberg ist, oder was Ennio Morricone für Sergio Leone war: der unverzichtbare Haus- und Hofkomponist. Der große Erfolg von "Nausicäa", der sicher auch Hisaishis Musik zu verdanken ist, führte dazu, dass das "Nausicäa"-Filmteam das heute bei Anime-Fans weltberühmte Studio Ghibli gründete. Dort richtete Hisaishi auch sein Filmmusikstudio "Wonder Station" ein. Hier produzierte er Scores zu den großen Ghibli-Hits, fantasievolle Märchen mit sozialkritischem Unterton, die häufig die Zerstörung der Umwelt, Gewalt und Diskriminierung anprangern, wie "Mein Nachbar Totoro" (1988), "Kikis kleiner Lieferservice" (1989), "Chihiros Reise ins Zauberland" (2001), "Prinzessin Mononoke" (1997) oder "Das wandelnde Schloss" (2004), wo Hisaishi wie so häufig selbst die Klavierparts spielte.
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Anfang der 90er-Jahre trat ein Realfilm-Regisseur in Hisaishis Leben: der japanische Comedian Takeshi Kitano. Hierzulande wurde er um die Jahrtausendwende durch die Gameshow "Takeshi's Castle" bekannt. Anders als in seinem sonstigen Metier wählte Kitano für seine Filme vor allem ernste und poetische Stoffe, die Hisaishi einfühlsam und musikalisch farbenfroh einfing. In den ersten Filmen mit Kitano, dem Pärchendrama "Das Meer war ruhig" (1991) und dem Gangsterdrama "Sonatine" (1993) ließ Hisaishi Synthpop auf Minimal Music treffen.
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Sonatine I (Act of Violence) - Joe Hisaishi (Sonatine Soundtrack)
1997 gewann Kitanos und Hisaishis gemeinsamer Film "Hana-Bi" mit seinem romantischen Klaviersoundtrack den Goldenen Löwen bei den Interationalen Filmfestspielen von Venedig, und 1999 nahmen sie mit "Kikujiros Sommer" an den Filmfestspielen in Cannes teil.
2001 drehte Hisaishi seinen einzigen Film als Regisseur: "Quartet". Darin erzählt er die Geschichte eines Streichquartetts, das Jahre nach seiner Gründung zu Studienzeiten wieder zusammenkommt, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Ein schöner Insider-Blick auf das Musikschaffen – natürlich mit Musik vom Regisseur selbst.
Ich glaube, dass ich bis zu meinem letzten Tag komponieren werde. Ich werde nie in den Ruhestand gehen.
Hisaishi bei der Golden-Globe-Verleihung 2024 | Bildquelle: picture alliance / Jordan Strauss/Invision/AP | Jordan Strauss 2023 veröffentlichte Hisaishi einen seiner erfolgreichen Soundtracks, seine Filmmusik zu "Der Junge und der Reiher". Anders als bei den meisten seiner Ghibli-Soundtracks wartet er hier nicht mit satten Orchesterklängen auf, sondern mit der puren Kraft der Klaviers. Keine seiner Filmmusiken wurde für mehr Preise nominiert. Der Film holt den Golden Globe und den Oscar für den besten Animationsfilm. 40 Jahre nach Gründung des Studios Ghibli ist das Duo Hisaishi/Miyazaki ganz oben vereint.
Hisaishi hat neben dem Film das Komponieren für den Konzertsaal und für andere Zwecke nie aufgegeben. 1998 etwa wurden die Olympischen Winterspiele in seiner Heimatstadt Nagano unter anderem mit seiner Musik eröffnet. Außerdem war er Composer in Residence beim New Japan Philharmonic Orchestra, das er immer noch häufig dirigiert. Und jetzt veröffentlicht Hisaishi ein Album mit den Wiener Symphonikern und dem Bratscher Antoine Tamestit. Unter anderem ist seine in der Pandemie entstandene Zweite Symphonie auf dem Album – ein Werk, das entspannt zu hören sei und die Menschen beruhigen sollte. In ihr, noch mehr aber in Hisaishis Viola Saga, spürt man nach den großen symphonischen Filmmusiken eine Rückkehr zur Minimal Music beziehungsweise eine Verschmelzung seiner Liebe zum großen Orchester und zur komplexen Denkweise der Minimal Music.
Ich wünsche mir, dass meine Musik so natürlich klingt, wie Wolken sich formen oder Jahresringe eines Baumes wachsen
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Joe Hisaishi with Antoine Tamestit & Wiener Symphoniker - Viola Saga Movement 2 (Part 1)
Am 25. Mai kommt Joe Hisaishi mit seiner Musik in die Olympiahalle, zusammen mit den Münchner Symphonikern und dem Münchner Motettenchor. BR-KLASSIK berichtet über das Konzert am Montag, 27. Mai, in der Sendung "Leporello" zwischen 16:00 und 18:00 Uhr.
Sendung: "Cinema - Kino für die Ohren" am 26. Mai 2024 und "Leporello" am 27. Mai 2024 auf BR-KLASSIK
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