Der Komponist Franz Schubert und seine Freunde haben sich regelmäßig zu Landpartien getroffen. Ein Ausflug ins Örtchen Atzenbrugg in Niederösterreich ist der biographische Kern der Oper "Schuberts Reise nach Atzenbrugg", ein Auftragswerk des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz. Der Schriftsteller Peter Turrini hat das Libretto geschrieben, Johanna Doderer hat es vertont. Zur Premiere am 30. April 2021 wurde kurzfristig eine Handvoll Pressevertreterinnen und Pressevertreter zugelassen – unter strengen Hygieneauflagen. Sylvia Schreiber war für BR-KLASSIK im Gärtnerplatztheater.
Bildquelle: Christian POGO Zach
Dicker Nebel kriecht über die Bühne. Mindestens genauso vernebelt ist auch Schuberts Geist. Er brütet eine Melodie aus, kauert am Boden. Nur will die Idee partout nicht aufs Papier. Schubert trinkt aus der Weinflasche, krümmt sich. Denn er ist ein leidender Künstler: einsam, hadernd, verzweifelt, versoffen.
Raus aufs Land! Szene mit Mathias Hausmann (Kupelwieser), Mária Celeng (Josepha) und Daniel Prohaska (Schubert). | Bildquelle: © Christian POGO Zach Aber Schubert bleibt nicht alleine. In der Inszenierung vom Chef des Hauses, von Josef E. Köpplinger, hinken übel zugerichtete Kriegsveteranen von beiden Seiten auf die Bühne. Eine Kutsche rollt durch die Menge. Auf dem Wagen albert eine sommerlich herausgeputzte Gesellschaft aus Künstlern und Bohemians. Sie verteidigt ihre hübschen Sitzplätze gegen die bettelnden Krüppel. Mitten in der Runde hockt nun auch der kleine, feiste Franz Schubert am Klavier. Verkniffen der Mund, verstohlen der Blick, so, wie man ihn von Portraits kennt. Er ist scharf auf eine gewisse Josepha. Ein sensibles Töchterchen aus wohlhabendem Haus, das zur Künstler-Clique gehört – grazil wie eine Käthe-Kruse-Puppe und stimmlich satt, süffig und sicher von Maria Celeng verkörpert.
Die Reise nach Atzenbrugg beginnt. Der Kutscher lässt die Peitsche knallen, im Hintergrund verändert sich die Landschaft. Es wird kokettiert, gefuttert, gequatscht im österreichischen Dialekt, gelacht. Und Schubert ist zwar leise, aber dennoch mittendrin. Eigentlich will er Josepha seine Liebe erklären, aber es ist, als hätte man ihm die Zunge abgeschnitten. Daniel Prohaska hat das verklemmte Pummelchen Schubert quasi inhaliert. Diesen Typen, der schier zerspringt unter der Last seiner vielen Melodien, unter den Qualen seiner Syphilistherapie und vor allem unter seiner Sehnsucht nach Liebe. Schubert fehlen die Worte, er kann nicht kommunizieren, kann "nur" durch Musik sprechen. Und Daniel Prohaska zeigt das überzeugend, mit kratzenden Fingerkuppen, mit Trippelschritten und einem Mund, der sich stumm öffnet, wie bei einem Karpfen. Allein seinem charmanten und weisen Freund Kupelwieser kann Schubert sich mitteilen.
Holger Ohlmann spielt Franz Schuberts Vater Theodor bei der Premiere "Schuberts Reise nach Atzenbrugg" | Bildquelle: Christian POGO Zach Johanna Doderer zeichnet die Gegensätze der Freunde musikalisch nach. Kupelwieser wird verständnisvoll und sonor gesungen von Mathias Hausmann. Schubert hingegen verzerrt die Silben gellend. Überhaupt verwebt die österreichische Komponistin drei musikalische Ebenen mit feinen Fäden. So verwendet sie immer wieder Versatzstücke von Schubert-Originalen: aus der Winterreise, aus den Atzenbrugger Tänzen, aus der Messe in Es-Dur. Sie dekonstruiert zudem verschiedene Motive und baut damit eine harmonische Brücken zu ihrer eigenen musikalischen Sprache, die immer melodisch bleibt.
Bildquelle: Christian POGO Zach Johanna Doderer kommt wunderbar aus mit einem kammermusikalisch aufgestellten Orchester und ein paar Extra-Schlaginstrumenten. Mehr Pomp muss sie nicht auffahren. Das Libretto von Peter Turrini braucht keinen Dünger. Derbe Bissigkeiten, philosophische Weisheiten über die Liebe, soziologische Betrachtungen über Gesellschaftsschichten und Männertypen setzt er gekonnt nebeneinander. Turrini protzt nicht mit Details aus Schubert-Biographien, sondern bleibt lieber wahrhaftig. Eine aufdringliche Verehrerin kanzelt Schubert darum mit "Die nervt" ab. Und Weisheiten zum Nachdenken setzt Turini wohldosiert ein, wie Hagelzucker auf einem Hefezopf: "Die Wirklichkeit ist eine verpatzte Angelegenheit, deshalb gibt es die Kunst", heißt es beispielsweise. Wie gut vor allem, dass es für diese Kunst im Opernhaus Übertitel gibt und einem kein Wort von Turrini entgeht.
"Die Reise nach Atzenbrugg" ist eine Oper mit Solistinnen und Solisten, einem Chor und einem Kinderchor, die alle singen, tanzen und spielen, als ginge es um ihr letztes Hemd. Sie ist auch eine Oper über einen Komponisten, der es ausgerechnet im Genre "Oper" nur zu Rohrkrepierern gebracht hat. Und es ist eine Oper übers Aushalten. So spielt Schubert zwar in Atzenbrugg zur Polka auf, er lacht und grölt, aber in seinem Inneren tragen Einsamkeit und Sehnsucht selbstzerstörerische Kämpfe aus.
- Das Video der Vorpremiere ist bis einschließlich 7. Mai 2021 verfügbar. -
Im letzten Bild reißt sich Schubert die Kleider vom Leib, die lockige Perücke vom Kopf. Fast nackt rafft er die Notenblätter zusammen, die im gleißend-gelben Licht vom Himmel segeln. Nur die Töne sind es, die ihn entblößen. Die dem, der zuhört, zeigen, wer er ist.
Sendung: "Piazza" am 1. Mai 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (4)
Samstag, 01.Mai, 14:49 Uhr
Erth
Rezension
Mich hat die Darstellung der Person Schubert nicht überzeugt. So unsympathisch und dümmlich erscheint er hier, so dass ein falsches Bild sich festsetzt für Menschen, die sonst nicht damit sich beschäftigt haben. Es ist nicht die Musik, sondern die Darstellung, Regie und das Libretto, was für mich nicht erträglich war.
Samstag, 01.Mai, 10:10 Uhr
euphrosine
...und vielen Dank dem BR natürlich
fürs Übertragen!!
Da ich die Komponistin bislang nicht kannte, wäre mir die Oper sonst womöglich leicht entgangen (wenn man mal wieder wohin darf und dann nicht weiß, wohin zuerst...).
Samstag, 01.Mai, 10:02 Uhr
euphrosine
hoffentlich bald selbst dabei
Konnte nur einen Teil sehen/hören, dieser machte aber große Lust, die Oper baldmöglichst im Theater zu sehen: Komposition, Libretto, musikalische und szenische Umsetzung: Kompliment!
Samstag, 01.Mai, 09:12 Uhr
Renate von Törne
Kritik zu "Schuberts Reise ..." von S. Schreiber
Sehr geehrte Frau Schreiber,
schön, dass Sie dabei sein konnten! Aber: Im 19. Jahrhundert gab es keine "Bohemians";
man sprach Französisch, und es handelte sich um Künstler und "Bohemiens".
Nix für ungut und freundliche Grüße,
Renate von Törne