Freischaffende Musikerinnen und Musiker trifft der Kultur-Lockdown besonders hart. Sie können nicht auftreten, kaum noch ihre Miete zahlen und haben keine Perspektive für die Zukunft. Die Folge: Immer mehr Musikschaffende leiden unter psychischen Belastungen und Existenzängsten. Der Psychotherapeut Andreas Burzik gibt besorgniserregende Einblicke in seine Praxis. Und erklärt, was Betroffenen helfen kann.
Bildquelle: picture alliance / dpa Themendienst | Klaus-Dietmar Gabbert
Tanjas Leben als Musikerin lief rund. Mit ihrem Ensemble hatte sie eine eigene Konzertreihe, daneben spielte sie regelmäßig als Aushilfe in Orchestern. Dann kam der Kultur-Lockdown – und Tanjas sonst voller Terminkalender war mit einem Schlag so gut wie leer. Zwei Auftritte bei Gottesdiensten im Frühjahr, ein Streamingkonzert im Sommer, das war alles. Tanja wollte sich nicht unterkriegen lassen. Sie verlegte sich aufs Unterrichten, kümmerte sich um ihre Kinder. Dann bemerkte sie die ersten Symptome: depressive Verstimmungen, massive Schlaflosigkeit, Angstgefühle.
Was um sich greift, sind Angststörungen, Depressionen und Zwangsstörungen.
Tanja heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Wie sie leiden immer mehr Musikschaffende seit Beginn der Corona-Pandemie unter psychischen Belastungen, beobachtet der Psychotherapeut Andreas Burzik. "Was um sich greift, sind Angststörungen, Depressionen und Zwangsstörungen. Auslöser dafür sind Existenzängste, gerade bei Freischaffenden." Der Psychotherapeut erzählt von einem Musiker in einer Künstler-WG, dem es von außen betrachtet gut zu gehen schien. Bis er begann, sich immer öfter die Hände zu waschen. Seit einigen Wochen schrubbt er sie, bis sie bluten. "Er hat sich in diese Art von Zwangshandlungen geflüchtet. Aus der Psychologie weiß man: Zwangshandlungen binden Ängste."
Der Psychotherapeut Andreas Burzik behandelt Musikerinnen und Musiker mit psychischen Problemen. | Bildquelle: Andreas Burzik Andreas Burzik hat sich auf die Behandlung von Musikerinnen und Musikern spezialisiert. Er kennt ihren Berufsalltag und ihre Sorgen, schließlich ist er selbst studierter Geiger. In seine Bremer Praxis kommen mittlerweile Patientinnen und Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet. Viele berichten seit dem Beginn der Pandemie von einer tiefen Identitäts- und Sinnkrise. "Das liegt daran, dass Musiker sich sehr tief mit ihrem Beruf identifizieren", erklärt Burzik. "Schon in ihrer Kindheit und Jugend haben sie ganz viel Zeit in diese Tätigkeit investiert. Sie sind mit Herzblut dabei. Wenn sie ihren Beruf nicht ausüben können, ist das nicht nur existenziell bedrohlich, sondern es bedroht ihr Identitätsgefühl."
Wenn Musiker ihren Beruf nicht ausüben können, bedroht das ihr Identitätsgefühl.
Wer bin ich noch, wenn ich nicht Musik machen kann? Wird meine Stelle bald gestrichen? Welchen Wert hat mein Beruf eigentlich, wenn er nicht "systemrelevant" ist? Die Verunsicherung bei Musikerinnen und Musikern wächst, ob freischaffend tätig oder festangestellt im Orchester.
Musikerinnen und Musiker, die schon vor der Corona-Pandemie mit seelischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sind besonders gefährdet, psychisch zu erkranken, so Andreas Burzik. In der Vergangenheit konnten sie ihre psychische Belastung noch kompensieren, etwa durch Alltagsbeschäftigung und Projekte in der Zukunft. "Wenn das wegbricht, kommen diese Menschen in wirklich schwieriges Gewässer. Gerade Personen, die unterschwellig mit Angst zu tun haben." Denn durch Corona werden sie ständig mit ihrer Angst konfrontiert, sei es in der Straßenbahn oder im Supermarkt.
Existenzangst kann zu Angststörungen, Schlaflosigkeit und Depressionen führen. | Bildquelle: picture alliance / BSIP | Alice S. Aber es kann jeden treffen. Die Musikstudentin Marina (Name geändert, Anm. d. Red.) hatte nie Probleme, vor Publikum aufzutreten. Durch Corona gab es allerdings kaum Konzertanlässe. Als sie bei ihrer Abschlussprüfung auf der Bühne stand, bekam sie eine Panikattacke. Plötzlich spielte ihr Körper verrückt, die Prüfung musste sie unterbrechen. Verzweifelt suchte sich Marina Hilfe bei Andreas Burzik. "Sie hatte ein Jahr nicht mehr vor Menschen gespielt. Und das ist ein ganz wesentlicher Punkt: Künstler brauchen auch eine gewisse Gewöhnung an die Situation, vor anderen Menschen zu spielen." Fällt diese Gewöhnung weg, könne das zu ganz massiven Störungen führen.
Regelmäßig Konzerte zu simulieren kann gegen solche Auftrittsangst helfen, so der Psychotherapeut, der von 2007 bis 2016 als Mentaltrainer die Akademisten des BRSO gecoacht hat. Sein Tipp: Ein paar Stuhlreihen im Raum aufbauen, jemanden aus der Familie bitten, zuzuhören. "Es tritt ein ganz eigenartiger Gewöhnungseffekt ein, wenn man das ein paar Mal gemacht hat."
Was aber, wenn der wichtige Auftritt, auf den man wochen- oder sogar monatelang hingearbeitet hat, am Ende doch nicht stattfindet? Diese Erfahrung musste Konstantin machen. Mehrmals bereitete er sich intensiv auf Probespiele für eine begehrte Orchesterstelle vor. Jedes Mal wurde der Termin kurz vorher coronabedingt abgesagt. "Dann steht man da, bekommt kein Feedback vom Orchester, weiß nicht, woran man weiter arbeiten müsste und sammelt keine Probespielerfahrung auf der Bühne." Ein Zustand, der für junge Musikerinnen und Musiker psychisch sehr belastend ist. Andreas Burzik kann das sehr gut nachvollziehen: "Wenn man sich auf ein Probespiel vorbereitet, lebt man wie im Tunnel. Man muss sehr diszipliniert sein, versagt sich viel. Und dann kann man sein Programm nicht loswerden. Dass man dann in ein Loch fällt, ist völlig normal."
Viele haben Angst, dass sie sukzessive aus ihrem Beruf herausrutschen.
Sich immer wieder neu zu motivieren, fällt Musikschaffenden in der Coronakrise zunehmend schwerer. Das kann auch der Geiger Elias bestätigen. Er weiß, wie glücklich er sich schätzen kann, eine feste Stelle in einem städtischen Orchester zu haben. Trotzdem fühlt er sich nach Monaten der Pandemie ausgelaugt. Die strengen Hygienemaßnahmen bei den Proben, die Minimalbesetzungen, die Streaming-Konzerte ohne Publikum. "Wir sitzen auf der Bühne und spielen nur für eine Kamera. Man wendet viel Energie auf, aber es kommt nichts zurück. Das ist nicht motivierend."
Schlechter Klang, kein Energieaustausch: Online-Unterricht kann Musiklehrerinnen und -lehrer sehr belasten. | Bildquelle: picture alliance / GES/Helge Prang | Helge Prang Motivationsprobleme kennen auch viele Musiklehrerinnen und -lehrer, die ihre Schüler seit Monaten nur noch auf dem Bildschirm sehen. Der Energieaustausch fehlt, die Lebendigkeit und das direkte Miteinander. Wie sollen sie klanglich arbeiten, wenn der Geigenton nur verzerrt aus dem Computer-Lautsprecher kommt? Für Andreas Burzik ist Online-Unterricht eine "ganz müde Krücke", vor allem, wenn er dauerhaft stattfindet. "Wir erleben dadurch eine dramatische Entsinnlichung unserer Welt", warnt der Psychologe. "Eine Klientin hat mir berichtet, dass sie Online-Unterricht als zehnmal anstrengender empfindet als Präsenzunterricht. Sie ist bereits nach drei Stunden oft völlig fertig."
Viele Freischaffende sind gleich doppelt betroffen: Ihnen fehlt inzwischen nicht nur die Motivation, sondern auch die Zeit für ihr Instrument. Um über die Runden zu kommen, mussten sie oft Aushilfsjobs annehmen. Eine fatale Situation, denn das Musizieren ist eine motorische Tätigkeit, bei der die Muskeln wie bei Sportlern ständig trainiert werden müssen. "Wenn die Künstler stundenlang bei Lidl Regale eingeräumt haben, haben sie Angst, dass sie ihr Instrument nicht mehr pflegen können und sukzessive aus ihrem Beruf herausrutschen." Burzik versucht zwar, in seiner Praxis Möglichkeiten und Wege zur Unterstützung aufzuzeigen. "Aber wenn eine ganze Lebensperspektive weggebrochen ist, hat man auch als Psychotherapeut schlicht und einfach Grenzen", gibt er zu.
Soziale Kontakte sind essenziell. Sich Zuhause einzuschließen ist keine Lösung.
Dennoch sieht Andreas Burzik, wie gut es den meisten Künstlerinnen und Künstlern tut, wenn sie offen über ihre Belastungen und Ängste sprechen können und sich verstanden fühlen. In seinen Therapiestunden betont er immer wieder, wie wichtig es ist, seine Grenzen zu respektieren und sich nicht zu überfordern – gerade in schwierigen Zeiten wie der Coronakrise. Selbstfürsorge heißt das Stichwort. "Also nicht nur üben, sondern auch viele Dinge nebenher tun, die einem guttun." Als Beispiele nennt Burzik Spaziergänge in der Natur oder Treffen mit anderen Menschen. "Sich zuhause einzuschließen ist keine Lösung. Soziale Kontakte sind essenziell!"
Für Betroffene bieten die Krisendienste Bayern Hilfe an: Unter der kostenlosen Rufnummer 0800 / 6553000 erhalten Menschen in seelischen Krisen und Angehörige qualifizierte Beratung und Unterstützung.
Sendung: "Allegro" am 28. April 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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