In ihren Romanen beschäftigt sich Mirna Funk intensiv mit Fragen jüdischer Menschen über Herkunft und Gegenwart. In ihrem Alltag ist ihr ihr Jüdischsein wichtig, aber religiös ist sie nicht. Zum Themenjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ist sie Moderatorin des Podcasts #2021jlid, der ein umfassendes, differenziertes und realistisches Bild jüdischen Lebens der Gegenwart in Deutschland zeichnen will. Mit BR-KLASSIK hat sie darüber gesprochen, warum jüdisches Leben nichts mit Religion zu tun haben muss und warum sich so viele schwer damit tun, das Wort "Jude" auszusprechen.
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BR-KLASSIK: Mirna Funk, wir haben in der Redaktion lange gegrübelt, wie man hier auf der Website jüdisches Leben bebildern kann – ohne die obligatorischen Kippas. Was ist ein klischeefreies Bild jüdischen Lebens?
Mirna Funk: Vielleicht einfach ein Mensch? Gerade hier in Deutschland ist jüdisches Leben ja vor allem nicht religiös, sondern meistens säkular. Und dann müsste man eben einfach ein normales Bild von normalen Menschen zeigen, vielleicht von jüdischen Menschen, die ein bisschen bekannter sind. Jüdische Menschen also, die sich zu jüdischem Leben irgendwie äußern. Es macht jedenfalls keinen Sinn, immer Männer mit Kippa zu zeigen.
BR-KLASSIK: Das Judentum wird heute in der Wahrnehmung vieler Menschen vor allem mit drei Themen in Verbindung gebracht: Da ist einmal der Holocaust, dann Israel, und in den Medien vor allem Antisemitismus. Das ist ja eigentlich ein bisschen mager für 5.000 Jahre Geschichte. Wo setzt der Podcast an, um dieses Bild zu differenzieren?
Mirna Funk: Der Podcast ist eine Interview-Reihe und beschäftigt sich im Gespräch mit jüdischen Personen aus Deutschland und ihrer Geschichte. Ich dachte, dass man über die Biografie besonders viel zu jüdischen Leben erfahren kann.
BR-KLASSIK: Jüdisches Leben steht auf der einen Seite, und auf der anderen Seite gehören dazu die Begriffe "Jude" und "Jüdin". Viele Deutsche tun sich wahnsinnig schwer, jemanden als "Juden" oder als "Jüdin" zu bezeichnen. Warum?
Mirna Funk, Shelly Kupferberg und Miron Tenenberg sind das Team des Podcasts #2021jlid | Bildquelle: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V. Mirna Funk: Ich glaube, es gibt drei verschiedene Gründe: Der erste ist, dass ganz viele glauben, Jude oder Jüdin sei ein Schimpfwort, was falsch ist. Nein, Jude oder Jüdin ist kein Schimpfwort. Wir selbst nennen einander Jude oder Jüdin. Das zweite ist, dass ich glaube, dass wir bei diesem Wort so viele Bilder im Kopf haben, die verwirren und irritieren, von den KZs, den Leichenbergen und Hitler. So ist das für viele einfach ein extrem aufgeladener Begriff. Und der dritte Grund ist der große Irrtum, es ginge nur um Religion beim Judentum und beim Judesein. Zum Beispiel hat Söder im Dezember bei einer Ansprache allen "Bayern jüdischen Glaubens" ein schönes Chanukka gewünscht – wobei er das Wort übrigens Schanukka, also falsch, ausgesprochen hat – und das zeigt auch, dass er davon ausgeht, dass es Bayern jüdischen Glaubens sind, also dass alle die Chanukka feiern und Juden sind, religiös oder gläubig wären. Und das ist eben nicht so.
Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass es sich bei jüdischem Leben um eine Kultur handelt.
BR-KLASSIK: Es ist schon fast eine Krux im Judentum: Das eine ist eine Religionszugehörigkeit, das andere ist eine kulturelle Identifikation oder eine Volkszugehörigkeit, wenn man das überhaupt sagen kann. Das heißt also: Man kann Atheistin sein und trotzdem Jüdin. Das muss man auch erst mal verstehen.
Mirna Funk: Von den insgesamt 15 Millionen Juden, die auf der Welt verteilt leben, was ja nicht viel ist, sind nur gut 20 Prozent überhaupt religiös. Alle anderen leben ganz normale, säkulare Leben. Meine Familie und ich feiern zum Beispiel die jüdischen Feiertage, das heißt aber noch lange nicht, dass man zutiefst religiös sein muss, um Rituale oder Traditionen zu pflegen. Und vor allem sind die Feiertage ja auch daran ausgerichtet, was es für unterschiedliche einschneidende und kulturelle Ereignisse gab. Die Feiertage haben weniger mit Gott zu tun, sondern mit Ereignissen, die in diesen 5.700 Jahren jüdischer Geschichte stattgefunden haben. Das Pflegen dieser Kultur weist über eine klassische Religion hinaus.
Die einzige Chance, die wir haben, um gegen Antisemitismus anzugehen, ist, offen über sein Judentum zu sprechen und damit Vorurteile langfristig abzubauen.
BR-KLASSIK: Wie halten Sie es denn mit dem Begriff Jüdin? Sagen Sie offen "Ich bin Jüdin", auch wenn immer wieder Übergriffe auf Menschen, die Symbole jüdischen Glaubens tragen, stattfinden?
Bildquelle: Marlene Lauritsen Mirna Funk: Ich bin seit fünf, sechs Jahren Schriftstellerin und Journalistin und setze mich mit den Themen ganz viel auseinander. Das heißt, in meinem Umfeld weiß man mittlerweile, dass ich das bin. Dementsprechend ist das nichts, was ich verstecke. Die jüngere Generation, also die Teenager oder 20-Jährigen, tragen ihr Judentum ganz offensiv nach außen. Und ich finde es ganz wichtig, damit offensiv umzugehen. Und ich glaube auch, dass das unsere einzige Chance ist, gegen Antisemitismus anzugehen: nämlich offen darüber zu sprechen und damit Vorurteile langfristig abzubauen.
Mirna Funk wurde 1981 in Ost-Berlin geboren und lebt in Berlin und Tel Aviv. Sie arbeitet als Journalistin und Autorin. Für ihren ersten Roman "Winternähe" (2015) erhielt sie den Uwe-Johnson-Preis für das beste Debüt. Im Februar 2021 erscheint ihr zweiter Roman "Zwischen Du und Ich". Seit 2018 schreibt sie in der deutschen "Vogue" die Kolumne "Jüdisch heute". Zusammen mit Shelly Kupferberg und Miron Tenenberg ist sie Gastgeberin des Podcasts #2021jlid.
Sendung: "Leporello" am 12. Januar 2021 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK