Riesige Statur, wuchtige Brustkasten und dazu eine engelsgleiche Knabenstimme: Jahrhunderte lang haben Kastraten das Opernpublikum verzaubert. Ein kleiner Eingriff - mit weitreichenden Folgen. Wissenschaftlern gibt das Phänomen Kastrat bis heute Rätsel auf. Doch italienische Forscher haben bei einer Exhumierung 2013 Erstaunliches entdeckt.
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Reihenweise fielen die Frauen in Ohnmacht, wenn sie die atemberaubenden Koloraturen der Kastraten hörten. Auch Könige und Päpste waren von ihrer Kunst hingerissen. Doch für die bezahlten die Kastraten einen hohen Preis - und das kaum freiwillig. Die Operation musste vor der Pubertät erfolgen. Es waren nur zwei kleine Messerschnitte an den Hoden, die aus den Knaben das machte, was sie ein Leben lang bleiben würden: Kastraten. Sie behielten ihre hohe Stimme und konnten keine Kinder mehr zeugen. Doch das war nicht alles. Der Eingriff hatte weitreichende Folgen für die gesamte Entwicklung des restlichen Körpers - das stellt ein Forscherteam der Universität Padua in einem Artikel für die Fachzeitschift Nature dar.
Zeitzeugen beschreiben die Kastraten immer wieder als sehr große Menschen mit einem riesigen Brustkasten und verhältnismäßig kleinem Kopf. Forscher der Universität Padua sind dem Phänomen Kastrat schon seit Jahren auf der Spur. Für Untersuchungen haben sie erstmals das komplette Skelett eines Kastraten exhumiert: Gaspare Pacchierotti. Der Kastrat lebte von 1740 bis 1821 und war zu seiner Zeit populär wie ein gefeierter Pop-Star. Seine Stimme wurde als Sopran mit großem Tonumfang beschrieben, voll und süß in der Höhe. Pacchierotti war ein Meister in geläufigen Verzierungen und Kadenzen. Über seine Kindheit ist wenig bekannt. Als 19-jähriger begann seine Sängerlaufbahn, die ihn durch ganz Italien bis nach London und Paris führte. Er sang bei der Einweihung der Mailänder Scala und auch bei der Eröffnung der Nuovo Teatro la Fenice in Venedig. Im Alter von 81 Jahren starb er an einem Ödem und wurde in einer Kapelle unweit seiner Villa in Padua beerdigt.
Bildquelle: Image by Zanatta 2016 in Nature Scientific Reports, benutzt unter einer CC-BY 4.0 Lizenz ISSN 2045-2322 Anfang Juli 2013 wurde Paccheriottis Grab geöffnet. Das Skelett, das sich unter der steinernen Grabplatte im Boden der Kapelle befand, war verhältnismäßig gut erhalten. Lediglich der Schädel des Kastraten war durch abgebröckelten Gips und eingedrungenes Wasser teilweise zerstört worden. Zur Untersuchung brachte man Pacchierottis Überreste ins Labor des Museums für anthropologische Anatomie der Universität Padua. Die Forscher wollten nähere Erkenntnisse über die Statur des Sängers und seine außergewöhnliche Stimme gewinnen. Anhand der Knochen schätzten die Forscher Pacchierottis Körpergröße auf 1,91 Meter. Insgesamt war er wohl eher dünn und schlaksig und hatte ein langes schmales Gesicht mit breiten Nasenhöhlen.
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Verschiedene Untersuchungen im CT und MRT ergaben, dass Pacchierotti an Osteoporose litt, also Knochenschwund. Die Forscher sehen dies als Folge der hormonellen Umstellung nach der Kastration. Demnach soll der Knochenverlust sich nach einer Kastration um das 10-fache erhöhen. Auffällig sei insbesondere der Verschleiß im Bereich der Halswirbelsäule, was jedoch wohl generell auf die kontinuierlichen Bewegungen von Kopf und Hals beim Singen zurückgeführt werden kann. In auffällig gutem Zustand war Pacchierottis Gebiss. Offensichtlich hat der Sänger seine Zähne intensiv gepflegt, war er sich ihrer Bedeutung fürs Singen und Artikulieren doch bewusst. Allerdings weist sein Gebiss deutliche Spuren von Zahnknirschen auf, was typisch für Menschen ist, die unter Stress stehen oder psychische Probleme haben. Womöglich besteht hier eine Verbindung zum traumatischen Erlebnis der Kastration, das auch für Pacchierottis Schmelzhypoplasie, Lücken im Zahnschmelz, verantwortlich sein könnte.
Pacchierotti soll vor seinem 12. Geburtstag kastriert worden sein. Seine Zeugungsunfähigkeit hinderte ihn jedoch nicht daran, zeitlebens diverse Liebesbeziehungen zu führen. Mit ihren unnatürlich hohen Stimmen, die wegen des großen Lungenvolumens noch viel kräftiger waren als von Knaben, sollen die Kastraten eine besonders anziehende Wirkung auf Frauen gehabt haben.
Der Stimmumfang der Kastraten war viel größer als der eines gewöhnlichen Menschen, weshalb die Komponisten ganz eigene Partien für die Kastraten schreiben konnten. Heute werden diese Partien von Frauen oder Countertenören gesungen. Einer der letzten Kastraten war Alessandro Moreschi, der 1922 in Rom starb. Er nahm Anfang des 20. Jahrhunderts einige Arien und Stücke wie Schuberts Ave Maria auf Schellackplatten auf. Es sind die einzigen erhaltenen Tonzeugnisse eines Kastraten.
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