BR-KLASSIK

Inhalt

AUFNAHMEPRÜFUNG: DAS „BORDEAUX CONCERT“ VON PIANIST KEITH JARRETT Sinnliche Jazz-Töne

Seit zwei Schlaganfällen im Jahr 2018 Jahren tritt er nicht mehr auf: der amerikanische Pianist Keith Jarrett, 77, der Urheber des vier Millionen Mal verkauften „Köln Concert“ (1975). Doch aus seiner letzten Tournee gibt es noch Aufnahmen. Jetzt ist nach „Munich 2016“ und dem „Budapest Concert“ der dritte Live-Mitschnitt aus dieser Tournee erschienen: Das „Bordeaux Concert“.

So klingt nur er. Keith Jarrett am Klavier. Das Hymnische und zugleich Pulsierende, das bei ihm stets einen unwiderstehlichen Drive entwickelt. Hier ist es wieder. Oder besser: Hier war es wieder. Das trifft eher zu bei einem Pianisten, der nicht mehr auftritt. Von den Schätzen, die bei seinem Label noch liegen, ist jetzt einer gehoben worden. Und die Frage liegt nahe: Ist es auch ein Schatz, den Fans unbedingt haben müssen?

BEZWINGENDE LYRISCHE MOMENTE MIT INNIGEN MELODIEN

Das Album enthält einige lyrische Momente, die sofort berühren. Etwa „Part IX“ klingt wie ein vergessener Evergreen. Es ist aber eine Improvisation Jarretts und keine Interpretation eines Stücks. Auch „Part XI“ zum Beispiel ist ein Konzertmoment von bezwingender Schönheit. Der dürfte auch Fans nicht kaltlassen, die jede Note dieses viel gefeierten Improvisators kennen. Hat er jemals zärtlicher gespielt? Mit noch mehr Sinn für innige Melodien und für ein wohldosiertes Maß an Pathos? Zappen wir noch ein Stück weiter.

GEFÜHLSTRUNKEN-SCHÖNE AUGENBLICKE

Pianist Keith Jarrett vor einem Konzert in Rio | Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records Und erst „Part XII“: Aaaah! Noch so ein gefühlstrunken-schöner Augenblick! Das ist Jarrett zum genüsslichen Hineinsinken. 13 Teilstücke enthält das „Bordeaux Concert“, und diese Teilstücke haben sehr viele nachdenkliche und – hier nochmal das Wort, denn es gibt kein besseres – innige Momente zu bieten. Auch der allerletzte Part des Albums ist einer von dieser Art. Daher endet dieses Album ausnahmsweise nicht mit ein oder zwei Evergreens, die Jarrett sonst gern ans Ende seiner Konzerte setzte, sondern mit einer melancholischen Improvisation.

JARRETT, DER GRIMMIG-VERBOHRTE

Es gibt auf dem Album aber auch ganz nervöse, unbequem verzahnte Passagen, die etwas Grimmig-Verbohrtes haben und dann in extrem kantiger Energie münden. Das ist bei „Part V“ der Fall.

DIE UNRUHE EINER ZEIT – SECHS JAHRE SPÄTER NOCH PASSENDER

Ein Keith Jarrett, der sein Publikum offenbar nicht nur schwelgen lassen wollte, sondern auch die Unruhe einer Zeit einfing, die seitdem noch viel unruhiger geworden ist. Hier drückt dieser Künstler Stimmungen aus, die heute, sechs Jahre nach diesem Konzert, den Nerv treffen. Er verblüfft – auch mit der x-ten abendfüllenden Improvisation.

IMMER WIEDER DURCH DIE NACHT ZUM LICHT. UND DANN: EIN FRAGEZEICHEN

Bis man im „Bordeaux Concert“ – aufgenommen am 6. Juli 2016, drei Tage nach dem „Budapest Concert“ und zehn Tage vor „Munich 2016“ - zu den besonders schönen Stücken kommt, muss man einige andere Momente hinter sich bringen. Immer wieder ging Jarrett in Bordeaux durch die Nacht zum Licht. Was ich nicht gebraucht hätte, wäre abermals ein Blues in C von ihm, aber der aus Bordeaux ist immerhin ziemlich gut gespielt. Und auch wenn ich insgesamt finde, dass etwa „Munich 2016“ und das „Budapest Concert“ aus dem selben Jahr runder und noch geglückter sind: Das „Bordeaux Concert“, das wie ein großes musikalisches Fragezeichen an die Zukunft wirkt und dementsprechend leis und mysteriös verklingt, lässt mich jetzt seit Tagen nicht mehr los: ein Jarrett-Album zum besonderen Hinterher-Sinnen.

    AV-Player