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Hat die Klassik die Chancen der Digitalisierung verschlafen? "Die Kultur liebt das Analoge"

Lange Zeit war Digitalisierung für Opernhäuser, Konzertsäle und Museen allenfalls ein Nebenschauplatz. Und dann kam Corona – seitdem findet das Kulturleben im Netz statt. Doch lässt sich das stiefmütterlich behandelte Terrain unter erschwerten Bedingungen im Eiltempo erschließen? Holger Noltze hat ein Buch über die Digitaldefizite in der Kultur geschrieben. Kurz vor dem Lockdown ist es fertig geworden. Er sagt: Unsere Branche hat das Internet als Ort und Medium ästhetischer Erfahrung noch nicht verstanden.

Johann Sebastian Bach am Tablett | Bildquelle: imago/CTK - BR Montage

Bildquelle: imago/CTK - BR Montage

Solo-Onlinekonzerte, Theater-Livestreams oder ein Orchesterstück, zusammengesetzt aus einzelnen Handyaufnahmen – Musikleben findet gerade im Netz statt. Was bleibt der Szene auch anderes übrig? Seit Wochen sind Veranstaltungen und Konzerte coronabedingt untersagt. Die meisten Online-Angebote beschränken sich dabei auf die reine Darstellung eines musikalischen Vortrags. Und das wäre viel zu wenig, sagt Autor und Musikjournalist Holger Noltze.

Er hat ein Buch mit dem Titel "World Wide Wunderkammer" geschrieben, darin appelliert er zu einem regelrechten ästhetischen Aufschwung in der digitalen Revolution. Der Autor bemängelt, die Hochkultur hätte in den letzten Jahrzehnten kein ästhetisches Empfinden für die Chancen entwickelt, die die Digitalisierung bietet. Viel zu langsam hätten Opern- und Konzerthäuser die Qualitäten des Streaming für sich entdeckt und die vielfältigen Möglichkeiten des Internets ungenutzt gelassen.

Es gibt ja diese Formulierung: 'Wir stellen das mal ins Netz'. Da wird etwas Analoges einfach ins Digitale 'rübergeschoben.
Holger Noltze

Buch "World Wide Wunderkammer - Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution"

Autor: Holger Noltze
Verlag: Körber Stiftung
Seitenzahl: 256
Veröffentlichungsdatum: 11.05.2020

Ist das Digitale zu abstrakt?

Holger Noltze | Bildquelle: Bennet Seiger Autor und Musikjournalist Holger Noltze | Bildquelle: Bennet Seiger

Die Gründe für diesen "Dornröschenschlaf" lägen laut Holger Noltze darin, dass die Kultur viel zu sehr auf das Analoge fixiert wäre. "Dieses Haptische, dass man den Schweiß des Opernsängers sehen kann." Mit einem Medium, das viel abstrakter ist, würde sich die Kulturbranche deswegen schwertun. Ein großes Versäumnis! Denn das Digitale würde nicht einfach verschwinden. "Wir sind gut beraten zu schauen, was denn da in diesem Netz geht," sagt Holger Noltze. Er glaubt: "Da geht viel mehr, als das, was wir gerade sehen."
Einladende Kuratierung, Verlinkung verschiedener Inhalte, nutzerfreundliche Informationsvermittlung – Holger Noltze rät den Kulturinstitutionen dazu, die Möglichkeiten im Digitalen zu nutzen und das Feld nicht den "selbst ernannten Web-Gurus" zu überlassen. "Je länger Schockstarre und blinde Ergebung in die Gratis-Unkultur anhalten, desto geringer wird die Chance mitzuentscheiden, was wir zukünftig zu lesen, sehen und hören bekommen."

Streaming weitergedacht

Mit seiner 2016 gegründeten Streaming-Plattform "Takt1" versucht Holger Noltze gute Streams im Bereich der Klassischen Musik anzubieten – also nicht nur musikalisch ein Konzert abzubilden, sondern zum Beispiel über Kameraführung den Blick ins Gesicht eines Musikers zu ermöglichen. "Den Dirigenten sieht man ja immer von hinten. Aber wenn Sie Andris Nelsons sehen, wie er sich über eine Beethoven-Symphonie freut, – das ist ein sehr schöner Anblick."

Ich habe hier nur kleine Vorschläge. Aber mit mehr Ehrgeiz, mehr Aufgeschlossenheit gegenüber dem Internet – da ist einiges möglich!
Holger Noltze

Sendung: "Leporello" am 19. Mai 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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