Wer wissen will, wie Europa und die Welt wirklich ticken, der sollte nicht nach Brüssel oder zur UNO pilgern, sondern sich mit "Aschenputtel" beschäftigen - meint Kritiker Peter Jungblut und empfiehlt Massenets "Cendrillon". Der venezianische Regisseur Damiano Michieletto hat Jules Massenets selten gespielte Märchen-Oper für die Komische Oper Berlin neu in Szene gesetzt.
Bildquelle: Monika Rittershaus
Massenets "Cendrillon" an der Komischen Oper
Aschenputtel ohne Happy End
In Deutschland ist es ein sozialkritisches Volksmärchen, der Italiener Rossini machte daraus eine derb-witzige Satire, der Russe Prokofjew ein skurril-dramatisches Ballett, der Amerikaner Walt Disney einen kitschtriefenden Zeichentrickfilm und der Franzose Jules Massenet ein lyrisch-pathetisches Rührstück. Seele und Charakter jeder Nation spiegeln sich also auf jeweils ganz eigene Weise in der Geschichte vom armen, einsamen, ausgegrenzten Mädchen, das zur Prinzessin wird.
Kein Wunder, dass sich schon viele Psychoanalytiker für das "Aschenputtel", italienisch "Cenerentola", französisch "Cendrillon" interessiert haben. Der venezianische Regisseur Damiano Michieletto zeigte Massenets selten gespielte Märchen-Oper gestern Abend in Berlin als überraschend düstere Tragödie einer Primaballerina. Lucette, das Aschenputtel, ist hier eine Tänzerin, die unglücklich stürzt und mit einem geschienten Bein im Krankenhaus liegt. Sie wird nie wieder auftreten können und denkt an Selbstmord. Ihr früherer Partner, der Prinz Charmant, wird darüber schwermütig.
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Gekonnt spielen Regisseur Michieletto und sein Ausstatter Paolo Fantin mit allen Klischees der Ballett-Filme. Hart und erbarmungslos geht es zu im Tanz, wer wüsste das nicht, seit sich im Bolschoitheater die Stars mit Säureanschlägen aus dem Weg räumen wollten. Das Casting ist gnadenlos, die Lehrerin bösartig und intrigant, der Ruhm im Scheinwerferkegel vergänglich. Es stehen ein Dutzend Tänzerinnen bereit, die die Primaballerina ersetzen wollen.
Am Ende balgen sich die gefühlskalten Konkurrentinnen um die berühmten Schuhe von Aschenputtel. Sie selbst sitzt mit Krücken am Boden und wird doch noch vom Prinzen umarmt, der seinen Tänzer-Beruf ebenfalls aufgibt. Ein Happy End sieht anders aus. Jules Massenet interessierte sich nicht sonderlich für die komische Seite von "Cendrillon", also für die missratenen Halbschwestern oder die eitle Stiefmutter. Stattdessen faszinierte ihn das Märchenhafte, Poetische an dem Stoff. Geister und Feen treten auf und verhelfen Cendrillon zur wahren Liebe, was in der Berliner Inszenierung natürlich alles nur die Einbildung einer verzweifelten Schwerkranken ist. Paolo Fantin baute einen tristen Ballettsaal, der erst zur Krankenstation und dann zum Feenwald wird, ganz in der Tradition klassischer russischer Handlungsballette, die bekanntlich keine Scheu vor altertümlich bemalten Bühnenprospekten haben. Gelacht wurde nicht in dieser gleichnishaften "Cendrillon".
Sopranistin Nadja Mchantaf in der Titelrolle der Lucette begeisterte nicht nur durch ihre Stimme, sondern auch durch absolut glaubwürdige Ballettschritte. Das gilt auch für den gesamten, wieder einmal hervorragend geprobten Chor der Komischen Oper Berlin. Nie wurde es unfreiwillig komisch oder gar peinlich - und leicht ist es nun wirklich nicht, professionellen Tänzern nachzueifern. Veselina Handzhieva und Miguel Angel Collado tanzten als Doubles eindrucksvoll den tragischen Pas de deux, an dessen Ende sich Lucette verletzt. Die Mezzo-Sopranistin Karolina Gumos gab als Hosenrolle den Prinzen: Empfindsam, zerbrechlich, unnahbar.
Der ungarische Dirigent Henrik Nánási ließ Massenet ausgesprochen schwergewichtig, melancholisch, breit klingen. Für deutsche Ohren passt Rossinis leicht-beschwingte Fassung vermutlich besser zum Aschenputtel. Wir nehmen unsere Märchen ja ungern so lyrisch-ernst wie die Franzosen. Umso lohnender ist diese Entdeckung. Viel Begeisterung und kein einziger Protest aus dem Publikum - das übrigens trotz Fußball vollzählig erschienen war.
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