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"Carmen" in Frankfurt Barrie Kosky überrascht mit neuer Fassung

So eine Carmen hat man noch nicht gehört und gesehen. Regisseur Barrie Kosky brachte Bizets Oper in Frankfurt auf die Bühne – aber in einer komplett neuen Fassung. Zusammen mit dem Dirigenten Constantinos Carydis hat er einen Mix aus den zehn Fassungen des Komponisten zusammengestellt. Und es hat sich gelohnt, findet BR-KLASSIK-Kritikerin Natascha Pflaumbaum: Spannende neue Details kommen zum Vorschein.

Diese "Carmen" ist vom ersten Moment an anders. Das Publikum sitzt und wartet auf den Dirigenten. Doch das Saallicht wird nicht langsam heruntergedimmt, wie üblich, sondern es gibt einen Blackout in Milli-Sekunden, synchron dazu knallt der Eröffnungstusch der Ouvertüre aus dem Orchestergraben, und man zuckt auf seinem Stuhl zusammen: Aufpassen Leute, jetzt müsst ihr mitdenken. Das ist hier die Botschaft.

Carmens Stimme aus dem Off

Regisseur Barrie Kosky und Dirigent Constantinos Carydis arbeiten für Frankfurt mit einer besonderen Fassung. Bizet hat insgesamt zehn Fassungen der Carmen hinterlassen, Chöre und die Couplets, Arien immer wieder überarbeitet. Die neue Frankfurter Fassung ist nun eine Art Kompilation aus allen zehn Fassungen. Eine fassungsübergreifende Version, die sich nicht an die Moden und Eingriffe des Theaters zu Zeiten Bizets hält. Das wesentliche Merkmal dieser Fassung liegt in der Hinzufügung narrativer Texte von Meilhac, Halévy und Mérimeé. Die spricht eine Stimme aus dem Off: Carmens Stimme, die Erzählerin, Kommentatorin ist. Diese Stimme spricht einen Prolog, sie verbindet Szenen, wie in einem klassischen Singspiel oder wie in einer Revue. Tanz- und Chorszenen werden auf diese Weise herausgestellt, bekommen große Aufmerksamkeit, so sehr, dass man denkt, es handele sich hier um eine Chor-Oper. Statt der vier Akte der konventionellen Fassung gibt es in der Frankfurter Fassung nur drei, auch das Ende richtet seinen Fokus nicht – wie üblich – auf Don José, sondern auf Carmen.

Extreme ohne Kitsch und Klischees

"Carmen" an der Oper Frankfurt | Bildquelle: Monika Ritterhaus Showtreppe und Arena zugleich - das Bühnenbild in "Carmen". | Bildquelle: Monika Ritterhaus So weit, so gut. Warum das aber alles? Weil Kosky anscheinend keinen Spanienkitsch will. Diese neue Textfassung ermöglicht dem Regisseur tatsächlich eine neue Sicht und einen neuen Umgang mit dem Text: Er muss keine lineare Geschichte erzählen, er muss kein Carmen-Klischee bedienen, er muss keine kitschige Liebesgeschichte erzählen. Stattdessen setzt er auf Reduktion und Zuspitzung aufs Extreme. Hier und da spielt er zwar über die Kostüme - Torerotracht und Burlesque-Kleider - auf das Original an. Aber eigentlich geht es ihm um etwas Zeitloses: Kosky stellt extreme Menschen aus und ihre Gefühle. Statt Carmen- und Spanienkolorit lässt er darum die Oper dreieinhalb Stunden auf einer großen, bildfüllenden Treppe spielen. Wie einfältig, denkt man zu Beginn, aber gerade hier kommt Komplexität ins Spiel. Diese Treppe ist Showtreppe und Arena zugleich. Sie ist Theater, hier geht es auch um ein Spiel im Spiel, wie sich am Ende herausstellt. Sie erinnert an die berühmten Treppen von Montmartre, an die Showtreppe eines französischen Varietés. Sie ist Symbol für das soziale Oben und Unten, aus dem sich die Konflikte dieser Oper speisen. Kosky ist ein wahrer Meister im abwechslungsreichen Bespielen dieser Riesentreppe. Polternde Auf- und Abgänge, Sitztänze, Breakdance-Einlagen: der Regisseur  arrangiert fantastische Bilder, große Tableaus, wie Gemälde von Delacroix. Diese riesige Treppe verstellt absichtlich den Bühnenraum, um Raum für ein Kammerspiel zu schaffen, in dem Kosky den Fokus schärft: für die Figuren, für Carmen.

Sadistische Carmen im Gorilla-Kostüm

"Carmen" an der Oper Frankfurt | Bildquelle: Monika Ritterhaus Barrie Kosky zeigt Carmen als triebgesteuertes, brutales Wesen. | Bildquelle: Monika Ritterhaus Paula Murrihy singt und spielt eine sadistische Carmen. Fantastisch! Diese Carmen ist eine Frau, die tatsächlich nichts aus der Bahn wirft, die wie ein Gorilla Menschen und ihre Gefühle zerreißt. Darum steckt Kosky sie bei ihrem ersten Auftritt auch in ein Gorillakostüm: diese Carmen ist tierisch, triebhaft, brutal, grob. Aber Paula Murrihy gibt ihr eine ausdifferenzierte Stimme, die flexibel ist, mal groß, vor allem weich, kräftig, geschmeidig, eine Stimme, aus der man in jeder Sekunde ein Gefühl ablesen kann. Murrihy singt diese Carmen-Partie wie ein Lied, in feiner Ausgestaltung, auf einen langen Atem gesetzt, wortfeilend. Und Joseph Calleja, Don José, stimmt in diese feinsinnige Art ein, er gibt den sensiblen Counterpart: sensibel, nie schmetternd, mit klarer Diktion und in fantastischer Disposition. Seine Höhe hat Strahlkraft und Schönheit und vor allem Natürlichkeit.

Dynamisch Kontraste und überraschende Klangfarben

Alles das wäre aber nichts ohne Constantinos Carydis, den Klangmagier am Pult des Frankfurter Museumsorchesters, der diese "Carmen" seriös, klar, durchsichtig und mit großem Volumen aufbrausen lässt. Er dirigiert große Lautstärken: nie plump; malt überraschende Farben: ohne Kitsch; setzt auf große dynamische Kontraste und bleibt dabei so analytisch, als dirigiere er einen Kammermusikabend. Es ist, als setze er die Streicher und Bläser seines Orchesters auf verschiedene Ebenen, um so einen skulpturalen, dreidimensionalen Klang zu erzeugen. Carmen in der Frankfurter Fassung ist eine Entdeckung: inspirierend, unterhaltsam, zu Herzen gehend und mitreißend.

"Carmen" an der Oper Frankfurt

Opéra comique von Georges Bizet
Text von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée (1845)

Musikalische Leitung: Constantinos Carydis
Inszenierung: Barrie Kosky

Premiere: 5. Juni 2016
Weitere Vorstellungstermine und die Besetzung finden Sie hier.

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