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Kritik - Die Vorübergehenden Nikolaus Brass bei den Münchner Opernfestspielen

Eine Oper, die den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, die schonungslose Selbstbefragung zum Thema hat. Bei den Münchner Opernfestspielen feierte die Oper "Die Vorübergehenden" von Nikolaus Brass Uraufführung. Der Komponist hat dafür nicht nur die Musik geschrieben, sondern auch das Libretto verfasst.

Bildquelle: Wilfried Hösl

"Die Vorübergehenden" - die Kritik anhören

"Die Vorübergehenden" – das sind nicht nur die Figuren, die Nikolaus Brass in seiner gleichnamigen Oper auftreten lässt. "Die Vorübergehenden" – diese etwas sperrige Bezeichnung gilt eigentlich uns allen. Das macht Regisseur Ludger Engels unmissverständlich klar, wenn er mit Beginn des zweiten Teils, die Trennung zwischen Bühne und Publikum auflöst. Prekär war sie schon vorher. Denn von Anfang an sitzt man als Zuschauer inmitten einer szenischen Landschaft. Zwischen kleinen Bühnenflächen, die wie Inseln im Raum verteilt sind. Doch selbst diese Trennung geht verloren, wenn das Saallicht angeht und die Sänger die Zuschauer zum Flanieren ermutigen: die Reithalle also in einen Raum voller Passanten verwandelt. Menschen, die aneinander vorbeigehen, ohne einander anzusehen; zumindest ohne dass, wie es im Stück, heißt "einer den anderen wirklich sieht".

Albtraum mit Todesfolge

Das ist natürlich ziemlich egal, wenn es nur um den Sitznachbarn bei einer Opernaufführung geht. Schwierig wird’s aber, wenn es im Privaten genauso läuft: mit Eltern, Frau und Kind. Just das Problem des Liebenden – der Hauptfigur von Brass‘ Oper – der im Traum von den Chimären seiner Vergangenheit geplagt wird. Von Erinnerungsfetzen, Gestalten und Szenen, die ihm sein Beziehungsversagen vor Augen und Ohren führen. Ein bisschen erinnert das alles an Charles Dickens Weihnachtsgeschichte. Ohne Weihnachten freilich. Und mit weniger Geistern. Dem Geizigen bei Dickens stehen ja immerhin drei bei seiner Vergangenheitsbewältigung zur Seite. Derweil muss der Liebende bei Brass mit nur einem auskommen, noch dazu einem ziemlich fiesen. Namentlich: der Schatten. Da ist es vielleicht kein Wunder, dass er am Ende nicht geläutert das Bett verlässt, sondern stirbt. So steht es zumindest im Libretto. Diagnose: Albtraum mit Todesfolge.

Die Inszenierung in Bildern

Ein Vergnügen fürs Publikum

Szene aus "Die Vorübergehenden" von Nikolaus Brass bei den Münchner Opernfestspielen 2018 | Bildquelle: Wilfried Hösl Bildquelle: Wilfried Hösl Für den Zuschauer ist das trotzdem ein Vergnügen. Auch ohne glücklichen Ausgang. Denn was in den eineinhalb Stunden davor passiert, ist musikalisch wie szenisch ein ziemliches Ereignis. Vor allem deshalb, weil beides so glücklich Hand in Hand geht. Weil der Hörer gewissermaßen in das Kopftheater des Liebenden hineinversetzt wird. Während sich die Sänger relativ frei im Raum bewegen, sitzen die Orchester- und Chorgruppen, souverän geleitet von Marie Jacquot, rundum im Rücken des Publikums, dicht an die Wände gedrängt. Diese Anordnung zahlt sich aus, weil die Nähe und Ferne der Klänge und Stimmen den Vorgang des Erinnerns selbst akustisch einfangen. Mal dringen sie grell, fast aufdringlich ins Ohr, unmöglich sie zu ignorieren oder wegzuschieben – mal tönen sie fern, undeutlich wie ein schlecht gestelltes Radio, sodass man sich anstrengen muss, überhaupt irgendetwas zu verstehen.

Das umso mehr, als man als Hörer ständig im Kreuzfeuer verschiedener Klangereignisse steht – ähnlich wie der Liebende, der mitten im Raum in einer Art eingegittertem Hotelzimmer steckt. Nikolay Borchev gibt ihn als verzweifelten Gefangenen, heimgesucht von den Nachtgestalten seiner Vergangenheit: von der einstigen Geliebten beispielsweise, mit der er das musikalische Zwiegespräch sucht – was haarscharf aber doch hörbar misslingt. Das liegt auch an der schon erwähnten Geistergestalt, die keine Gelegenheit auslässt böse dazwischenzuzischen. Oder sich im fiesen Vierteltonabstand zwischen die zwei Liebenden zu mogeln. Eine dankbare Rolle, von Vasily Korochev mit mephistophelischem Charme verkörpert. In Glitzerrolli, auf hohen Absetzten und mit wachsweich schlängelnden Bewegungen.

Wohin geht die Reise?

Szene aus "Die Vorübergehenden" von Nikolaus Brass bei den Münchner Opernfestspielen 2018 | Bildquelle: Wilfried Hösl Bildquelle: Wilfried Hösl Dass es keine derart exaltierten Rollen braucht, um schauspielerisch wie sängerisch zu glänzen, zeigen indes Wolfgang Newerla und Ulrike Helzel, als Vater und Mutter des Liebenden. Er ein fast bewegungsloser Koloss, der seinen ockerfarbenen 50er-Jahre-Sessel zum Kindermöbel degradiert. Und dessen unterschwellige Spannung nur im energisch-ärgerlichen Zurechtrücken seiner Hornbrille sichtbar wird. Sie als verhärmte 50er-Jahre-Hausfrau im Beige-Braun-Kostüm, die sich mit sturer Pedanterie dem Kleinschneiden allerlei Sorten von Obst widmet.

Angesichts dieser Kinderstube möchte man dem Liebenden seine Probleme in Sachen Beziehung nicht verdenken. Sein Scheitern am Ende wirkt da wie die böse Folgerichtigkeit des Schicksals. Doch Brass, bis zur Pensionierung vor ein paar Jahren immerhin Psychiater, macht in seiner Inszenierung auch eine versöhnlicher Deutung dieses Endes möglich. Nicht um sonst liegt der Liebende post mortem auf dem Hotelbett, rauchend und mit gepackten Koffern: Die Reise geht also scheinbar weiter, wohin ist bloß die Frage.

Sendung: "Piazza" am 14. Juli 2018, 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

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